Beizung im Gegenwind?
Schon seit der Antike versuchen Landwirte, wertvolles Saat- und Pflanzgut durch Beizung wirksam vor Schaderregern zu schützen. Die gezielte Applikation einer – bezogen auf die Ackerfläche – geringen Wirkstoffmenge direkt am Wirkort macht sie sehr effizient. In den letzten Jahren kam jedoch diese prophylaktische Ausbringung eines Pflanzenschutzmittels, „angebeizt“ an das Saatgut, in die Kritik, nicht zuletzt befördert durch eine unsachgemäße Handhabung, die 2008 zum Bienensterben im Oberrheingraben führte.
Manchen Puristen ist das „vorsorgliche Behandeln ohne Diagnose“ ein Dorn im Auge, langfristig soll es ihrer Ansicht nach ohne den vorbeugenden Einsatz jeglicher chemischer Mittel beim Schutz von Kulturpflanzen gehen. Bis es soweit ist, steigern sie die Anforderungen an die Wirkstoffe, die Qualität des Beizvorgangs und an die Ausbringung. Politik und Zulassungsbehörden reagieren auf diesen Druck mit entsprechend hohen Auflagen.
Vor dem Hintergrund der Corona-Krise lässt sich allerdings in einigen Teilen der Bevölkerung ein Sinneswandel feststellen: Gegen Viruserkrankungen, wie Covid-19 oder die Vergilbung in Zuckerrüben, gibt es derzeit keine kurativ wirksamen Behandlungsmöglichkeiten. Vorbeugende Schutzmaßnahmen sind deshalb die einzige Möglichkeit, Schaden zu verhindern oder zumindest zu begrenzen. Dazu müssen neueste Technologien mit höchster Sorgfalt genutzt werden. Bei der Beizung kommt es darauf an, dass der Wirkstoff auch am Samen bleibt und nicht unkontrolliert in die Umwelt gelangt.
Bei jedem Beizverfahren kommt es zu Abrieb. Jeder, der schon einmal eine Saatgutpackung von innen sah, kennt das. Allerdings sind die Größenordnungen sehr unterschiedlich: Bei der Pillierung zum Beispiel von Zuckerrüben ist der Abrieb nahezu null, da der Wirkstoff unter einer Lackschicht aufgebracht wird.
Um die aus dem Abrieb resultierende Risiken zu minimieren, gibt es die „Windauflage“ NH 681 für einige insektizide und fungizide Wirkstoffe. Der Landwirt muss dann das Risiko der Umweltgefährdung vermindern, in dem er die Aussaat bei Windgeschwindigkeiten über 5 m/s (18 km/h) einstellt. Das stellt die praktische Durchführung vor erhebliche Probleme; die Frühjahrslüfte sind längst nicht immer so lau wie gewünscht und auch im Herbst stürmt es öfter mal.
Darüber hinaus dürfen einige insektizide und fungizide Wirkstoffe nur noch in „professionellen Saatgutbehandlungseinrichtungen“ angebeizt werden (Auflage NT 699-1). Das Julius Kühn-Institut führt eine Liste der bisher knapp 50 entsprechend zertifizierten Anlagen. Längst nicht alle Anlagen, insbesondere für die Getreidebeizung, sind aber bisher zertifiziert. Wer also auf die insektizide oder fungizide Wirkung der beauflagten Beizmittel setzen will, sollte nicht nur darauf achten, wie, sondern auch wo sein Saatgut gebeizt wurde.
Unbefriedigend ist hier allerdings die europäische Vielfalt in der Einheit: In manchen Fällen darf insektizidgebeiztes Importsaatgut in Deutschland ungehindert in Verkehr gebracht werden, selbst wenn die bei uns geltenden höheren Auflagen von der Beizstelle im Nachbarland nicht eingehalten wurden. Die deutsche Saatgutwirtschaft sieht hier eine Benachteiligung, die zu einer weiteren Schwächung der Sorten- und Saatgutvielfalt führt, auf der bisher die Leistungsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft fußt. Viele Betreiber kleinerer Saatgutbehandlungsanlagen werden die nötigen Umbauten und Ersatzinvestitionen sowie die laufenden Zertifizierungskosten bei den bescheidenen Margen nicht stemmen können und aufgeben. Das zeitliche „Nadelöhr“ zwischen Ernte und Aussaat der Winterungen wird dadurch noch enger. Eine frühzeitige Sortenentscheidung (und -bestellung!!) mag das etwas lindern.
Die Risikoabwägung der Zulassungsbehörden bei der Beizung tendiert dazu, die prophylaktische Behandlung zugunsten einer kurativen weiter einzuschränken. Chemische Maßnahmen sollen erst dann ergriffen werden, wenn sich ein Erreger etabliert und seine Schadschwelle überschreitet. Das ist jetzt das „gute“ Prinzip, auch wenn dann die applizierten Wirkstoffmengen höher und die Wirkungsgrade niedriger ausfallen und die Anzahl an Überfahrten zunehmen.
Die Hoffnungen auf eine geänderte, sachgerechtere Sichtweise sind eher vage:
Die Neonikotinoide verloren ihr Einsatzgebiet als Beizmittel in Mais 2008, in Raps 2013 und schließlich in Zuckerrüben 2018, ohne dass beispielsweise Virusvektoren im Zuckerrüben- und Rapsanbau vergleichbar effizient kontrolliert werden können. In Frankreich und vielen weiteren EU-Ländern ist man im Frühherbst mittels Notfallzulassungen für die Zuckerrübenpillierung zurückgerudert. In Deutschland schien man das in einem Pingpong zwischen Landwirtschafts- und Umweltministerien, zwischen Bundes- und Länderebene solange aussitzen zu wollen, bis die Saatgutpartien dann eben ohne Neonics produziert wären.
Doch kurz vor Weihnachten ergingen länderspezifische Notfallzulassungen für Thiamethoxam auf begrenzten Flächen für die Aussaat 2021 – Rübenanbauer, für deren Anbauregion die Notfallzulassung gilt, hoffen, damit dem Vergilbungsvirus Einhalt gebieten zu können. Dabei können sie sicher sein, dass ihr Saatgut in einer professionellen Saatgutbehandlungseinrichtung gebeizt und pilliert wurde.