Herzlich willkommen in der Politikrealität
Stefan Zwoll zur Bundestagswahl
Diese Bundestagswahl markiert für die Agrar- und Ernährungswirtschaft auf drastische Weise den Endpunkt eines langen Entwicklungsprozesses. Der Sonderstatus der Landwirtschaft im politischen Diskurs ist perdu. Seit diesem Montag ist klar, dass die Branchenakteure ab sofort den gleichen Mechanismen von Interessenbekundung und -vertretung unterworfen sind wie alle anderen Branchen in Deutschland auch.
Nur noch ganz wenige Stimmen werden künftig hinter den Kulissen im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit für das Wohlergehen der Betriebe und der Branche kämpfen. Vom verbleibenden, sehr überschaubaren Häuflein Agrarinteressierter sind keine Wunder zu erwarten. Eine kritische Öffentlichkeit wird ihre Interessen gegenüber der Branche ab sofort stärker als bisher durchsetzen können.
Diese Wahrheit sollte die Akteurinnen und Akteure der Landwirtschaft allenfalls kurzfristig erschrecken. Es gilt nun: Aufstehen! Schütteln! Krönchen zurechtrücken und weitermachen. Vielleicht ist nun der richtige Zeitpunkt, um alte Überzeugungen zu hinterfragen und an die neuen Realitäten anzupassen. Das kann befreiend wirken und neue Kräfte freisetzen.
Eine kritische Standortbestimmung gehört dazu und wirft einige Fragen auf:
Wie soll die Rolle der Landwirtschaft in der Wertschöpfungskette zukünftig ausgestaltet werden? Wie verhält sich die Branche gegenüber neuen Verbrauchertrends? Wie kann sie in der Breite anschlussfähiger an die gesellschaftlichen Trends werden? Wo gibt es neue Kooperationspartner und mit wem lassen sich neue Zukunftsallianzen schmieden? Wie kommen wir zu mehr Das-können-wir? Und weniger Das-wollen-wir-nicht?
Im Ergebnis müssen dann auch mehr positive grüne Erzählungen her. Diese sind schon heute im ganzen Land vorhanden. Und sie sind in Teilen diverser, weiblicher und bunter, als sich manche das vorstellen können.
Das Wahlergebnis ist nicht der Ausdruck eines kurzfristigen Zeitgeists, der sich bei der nächsten Wahl wieder abschütteln lässt. Die Bundestagswahl 2021 ist das Ergebnis eines kulturellen Wandels in Deutschland, der bereits hinter uns liegt. Diesen kulturellen Wandel anzuerkennen, ist der erste Schritt, um dann aktiv nach Lösungen zu suchen - für den einzelnen Betrieb, aber auch für die gesamte Branche.