Ein Jahr der grundsätzlichen Entscheidungen
Reinhard Grandke zu der Situation der Landwirtschaft 2022
2022 hat ruhig begonnen. Die Silvesterfeier, die das alte Jahr vertreiben und das neue gebührend empfangen soll, fand aufgrund der Corona-Pandemie meist im kleinen Familienkreis und wieder ohne Feuerwerk statt. Also genug Zeit, um sich für 2022 Gedanken zu machen, die Situation zu analysieren und die entsprechenden Ziele und Vorsätze daraus abzuleiten, die im besten Fall länger als ein paar Tage halten.
Für die Landwirtschaft aber wird 2022 kein Jahr, in dem die guten Vorsätze ausreichen. Die Situation in den Betrieben erfordert Entscheidungen von den Betriebsleitern, der Politik und den anderen Teilnehmern der Wertschöpfungskette. Entscheidungen, die für viele Betriebe zukunftsweisend sind. Die Frage nach Aufhören, Weitermachen oder Umsteuern stellt sich so essenziell wie seit Jahren nicht mehr.
In welchen Betriebszweig soll investiert werden, wo lohnt es sich durchzuhalten, um nach einer Krisenphase wieder in die Gewinnzone zu fahren oder muss ein Ausstieg in Erwägung gezogen werden? Entscheidungen grundsätzlicher Art, die dann nicht mehr umkehrbar sind!
Nach Jahren der Unsicherheiten für die gesamte Wertschöpfungskette, vom Vorlieferanten über den landwirtschaftlichen Betrieb bis zum Konsumenten, muss im Jahr 2022 eine Richtung festgelegt werden. Wie soll es mit der Land- und Lebensmittelwirtschaft in Deutschland, in der EU und weltweit weitergehen?
Gibt es ein gemeinsames Leitbild, wie die Welternährung, oder wollen wir in Deutschland Vorreiter einer neuen Landwirtschaft sein, mit eigenen Produktionsmethoden, eigenen Standards und hauptsächlich regionalen Märkten? Wie sollen diese gegen europäische Billigangebote geschützt werden? Wird es WTO-konform gelingen, Drittlandimporte auf gleiche Standards zu heben?
Wohin führt uns die geforderte Transformation der Landwirtschaft? Welche Rolle wollen oder können besonders die landwirtschaftlichen Betriebe spielen? Wo ist die ökonomisch erfolgreiche Positionierung, die Unternehmertum, Tierwohl, Biodiversität, Klimaschutz, Umweltschutz und Ernährungssicherung gemeinsam zu einem integrierten Erfolgsrezept verbindet?
Dabei gibt es eine Vielzahl von Unbekannten, die in der Gleichung für die Betriebe und die Betriebsleiter mit einbezogen werden müssen:
Wissenschaftlicher und technologischer Fortschritt; Betriebsmittelpreise am Weltmarkt; volatile Preise bei den Commodities; katastrophale Preise bei den Schweinen und kein Ende der ASP in Sicht; Geflügelgrippe; Verbraucherwünsche, die vielen Landwirten weit vom Realistischen entfernt scheinen; steigende Milchpreise, die zeitgleich von den steigenden Futterkosten aufgefressen werden; Reserven der Betriebe, die nach Dürre und langanhaltenden schlechten Preisen aufgezerht sind.
In den letzten Jahren haben Landwirte mit neuen Methoden und Kampagnen auf ihre Situation aufmerksam gemacht. Trecker in Berlin, Trecker vor Auslieferungslagern, Gründung neuer Interessengruppen, Gesprächsinitiativen, neue Ansätze der Öffentlichkeitsarbeit haben viel bewirkt.
Eine neue mediale Aufmerksamkeit für die Landwirte. Eine sympathischere/ausgewogenere Wahrnehmung/Darstellung der Berufsgruppe Landwirt, die nicht nur durch Skandale in der Presse und den Medien zu sehen ist. Diese Wahrnehmung und Aktionen haben zu vielfältigen Aktivitäten und Bekenntnissen für unsere Landwirtschaft geführt, aber was haben sie bis heute gebracht?
Mit der Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL) ist es gelungen die verschiedenen Stakeholder an einen Tisch zu holen und für eine neue Gesprächskultur auf Augenhöhe zwischen der Branche und den NGOs zu sorgen. Der Ergebnisbericht der ZKL ist ein Kompromisspapier der Akzeptanz, eine gute Vorlage für die Politik, aber noch kein konkreter Leitfaden für die Betriebe.
Wie wird sich das neue Ministerium positionieren?
Politik, Wissenschaft und die Teilnehmer der ZKL sind weiter gefordert, aus dem Ansatz der ZKL ein Zukunftskonzept für die Betriebe zu entwickeln und dieses umzusetzen. Dabei sind noch viele Fragen zu klären, übrigens auch finanzielle, wenn in den Märkten zusätzliche Kosten nicht vergütet werden. Gibt es dafür eine Zahlungsbereitschaft? Alte Instrumente müssen auf den Prüfstand gestellt und neue entwickelt werden. Dafür braucht es Mut: Mut zu Entscheidungen. Eine monatelange, ja jahrelange Hängepartie, wie beispielsweise bei den Ergebnissen der Borchert-Kommission, darf es nicht mehr geben.
Dieser gemeinsame Ansatz und die neue Gesprächskultur haben hier ihre erste Bewährungsprobe zu bestehen. Ein neuer, unvorbelasteter Minister hat die Chance, allen Beteiligten ebenbürtig zu begegnen, die Interessen und das Machbare abzuwägen und umzusetzen. Auch dabei gilt es Entscheidungen zu treffen, die nicht immer allen Gruppen gefallen werden, die aber nötig sind, um die Zukunftsfähigkeit der Land- und Lebensmittelwirtschaft in Deutschland sicherzustellen.
Bleibt der Verbraucher weiter das unbekannte Wesen? Es wird schwierig sein ihn auf etwas zu verpflichten. Noch schwieriger wird es sein, ihn durch Gesetze und Verordnungen erziehen zu wollen.
Aber der Verbraucher hat ein aktives Sprachrohr hinzugewonnen. Inzwischen zeigt der LEH, wie die Tierhaltung und die Produktion der Zukunft aussehen sollen. Dabei überholt er die Politik und gibt den Betrieben die Rahmenbedingungen vor. Auch hier sind grundsätzliche Entscheidungen gefragt. Wenn der Handel die Produktionsbedingungen definieren will, muss er auch für die Zukunftssicherung seiner Zulieferer sorgen. Dies bedeutet, dass die Konzepte und Vorgaben eine längere Laufzeit und Verlässlichkeit haben müssen. Eine Einkaufspolitik unter dem Schlagwort „Nachhaltigkeit“ sollte dieser auch gerecht werden und nicht als Hauptziel die Differenzierung vom Wettbewerb beinhalten. Landwirte sind bereit zu investieren, brauchen aber Sicherheiten bei Abnahmemengen, Preisen und Vertragslaufzeiten.
Kreativität, Wunschvorstellungen und Visionen sind wichtig, um ein innovatives Zukunftsbild zu schaffen. Aber bei allem Über-den-Tellerrand schauen ist auch der Blick für das Machbare notwendig.
Deshalb sind Entscheidungen für den Standort Deutschland gefragt:
Wollen wir eine international wettbewerbsfähige Landwirtschaft, eine Landwirtschaft, die ihrer globalen Verantwortung für Ernährung an einem Gunststandort gerecht wird oder suchen wir nur noch eine regionale Relevanz mit Produktionsmethoden, die die aktuellen Wünsche nationaler Politik und Gesellschaft adressieren?
Unter dem Thema „Wege in der neuen Realität – Ackerbau. Tierhaltung. Integration.“ versucht die DLG-Wintertagung, die Lage zu analysieren und die richtigen Entscheidungen vorzubereiten.