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Kabinen – viel mehr als nur ein Arbeitsplatz

Die Geschichte der Landwirtschaft ist auch eine Geschichte langer Jahre des Blutzolls. Schwere und teilweise tödliche Arbeitsunfälle gehörten zum Alltag, auch in der Landwirtschaft. Offen laufende Antriebswellen, frei zugängliche Riemen, keine Notabschaltung – die Liste möglicher Unfallquellen war lang. Auch wenn der DLG-Gründer Max Eyth bereits früh gegenzusteuern versuchte, indem er ab 1891 die besten Schutzeinrichtungen über die beiden Wanderausstellungen in Königsberg und München von einem Sonderausschuss prämieren ließ und ab 1894 in Berlin gar keine Maschinen mit offenen Antrieben mehr zur Ausstellung zugelassen wurden, endeten Unfälle mit Traktoren noch für lange Zeit besonders häufig tödlich.

Unfallursache: Umstürzen

Einen besonderen Schwerpunkt im Unfallgeschehen mit Traktoren bildete lange Zeit das Umstürzen oder Umkippen. Dieses konstruktiv zu verhindern, ist unmöglich, jedoch musste aufgrund der hohen Opferzahlen – bis etwa 1970 lag die jährlich zu beklagende Zahl der Getöteten bei etwa 200 Personen – eine Lösung gefunden werden, die den Fahrer im Fall eines Falles vor schweren oder gar tödlichen Verletzungen schützt. Reagiert hat schließlich der Gesetzgeber: Alle ab dem 1. Januar 1970 erstmals für den Verkehr zugelassenen Schlepper mussten einen Sicherheitsbügel, ein Sicherheitsverdeck oder eine Sicherheitskabine besitzen. Für bereits zugelassene Schlepper galt eine Übergangsfrist, diese waren bis 1977 mit Umsturzschutzvorrichtungen nachzurüsten. Mit großem Erfolg, denn durch die Einführung der Umsturzschutzvorrichtungen hat sich die Zahl der jährlich durch Umstürze von Traktoren Getöteten zwischen 1969 und 2010 um weit mehr als 90 Prozent reduziert und die Chancen für den Fahrer, einen Unfall glimpflich zu überstehen, sind groß.

Konstruktiv muss der Überroll-Schutzaufbau für Traktoren so ausgelegt sein, dass bei einem einmaligen Überschlag der Überlebensfreiraum des auf dem Sitz angegurteten Fahrers nicht eingeschränkt wird. Für die Berechnung der aufzunehmenden Energien bzw. Kräfte wird dabei für Traktoren in der Landwirtschaft aufgrund der hohen zulässigen Gesamtgewichte ein Massenverhältnis von Leergewicht zum zulässigen Gesamtgewicht, von maximal 1,75 zugrunde gelegt. Die Schwierigkeit bei der Konstruktion einer Kabine oder eines Überrollschutzes liegt darin, den richtigen Mittelweg bezüglich Energieaufnahmevermögen und Steifigkeit zu finden. Im Falle eines Um- oder Überschlags muss der Überrollschutz sowohl seitliche Belastungen in Längs- und Querrichtungen als auch vertikale Druckbelastungen aufnehmen und aushalten.

Belastung in Längs- oder Querrichtung bedeutet: Der Traktor fällt seitlich um oder steigt an der Vorderachse so hoch, dass er rückwärts umschlägt. Vertikale Druckbelastung erfährt die Kabine in dem Moment, wenn der Traktor auf dem Kopf steht. Im letzten Fall muss der Überrollschutz steif genug sein, den Belastungen standzuhalten. Bei Längs- und Querbelastungen müssen Energien in die Struktur eingebracht werden. Dies wird durch die aufgebrachte Kraft und die dabei entstehende Verformung erreicht.

Reparaturen an der Kabinenstruktur sind nicht zulässig!

Wo gehobelt wird, fallen Späne und wo gearbeitet wird, geht etwas kaputt. Einmal kurz nicht aufgepasst, ein kurzer Kontakt mit einer Mauer oder einem Balken und schon ist es passiert: Der Spiegelarm ist abgerissen oder die ganze Kabine bzw. der Überrollbügel verzogen. Auch wenn es noch so verlockend erscheint, hurtig zwei neue Löcher für den neuen Spiegelarm in den Kabinenrahmen zu bohren oder Überrollbügel bzw. Kabine schnell kalt zurückzurichten oder gar aufzutrennen und zu schweißen – es ist und bleibt nicht zulässig. Es dürfen ausschließlich bereits in der Sicherheitsstruktur vorhandene Löcher benutzt werden, ansonsten muss man auf Klemmverbindungen ausweichen. Und wenn ein Überrollbügel oder eine Kabine verzogen ist, können sie im Fall eines Umsturzes nur noch einen Bruchteil der nötigen Energie aufnehmen und somit nicht den notwendigen Schutz bieten. Ein solcher Schaden kann deshalb ausschließlich durch einen Austausch repariert werden. Hierzu sind auch die Angaben des Herstellers zu beachten.

Prüfnormen für Überrollschutz

Um zu dokumentieren, dass die Schutzstruktur (Kabine oder Überrollbügel, engl. ROPS für Roll-Over Protective Structure) auch tatsächlich die geforderte Energie bzw. Kraft aufnehmen und dem Fahrer den fürs Überleben nötigen Freiraum sichern kann, müssen im Rahmen der Straßenverkehrs- oder Marktzulassung Prüfungen bei unabhängigen Dritten bzw. bei benannten Technischen Diensten durchgeführt und entsprechende Prüfberichte vorgelegt werden.

Die Prüfvorschriften unterscheiden sich je nach Einsatzland und -zweck sowie Maschinentyp. Sie basieren häufig aufeinander, einige weisen aber auch große Unterschiede auf. Die bedeutendsten Standards sind die europaweit gültigen EN- beziehungsweise ECE-Standards, die nordamerikanischen ASAE-, SAE- und OSHA- Standards sowie die weltweit gültigen OECD-Standard-Codes 4, 6, 7, 8, 9 und 10 sowie ISO-Standards. Letztere sind wiederum oftmals die Grundlage für nationale Normen wie die DIN.

Bei Traktoren ist die ROPS-Prüfung nach OECD-Code 4 beispielsweise in vier bzw. in einigen Fällen in fünf Teilschritte unterteilt. Sie beginnt mit einer Längsbelastung von hinten auf einem Sechstel der Strukturbreite. Es folgen dann eine Druckbelastung auf die hintersten Pfosten, eine seitliche Belastung, eine Druckbelastung auf die A-Säule und gegebenenfalls, wenn bauartbedingt ein Kippen der Kabine möglich wäre, eine Längsbelastung von vorne auf einem Sechstel der Strukturbreite. Die jeweilige Belastungsenergie beziehungsweise -kraft errechnet sich dabei aus oben erwähntem Massenverhältnis, multipliziert mit einem für jede Einzelprüfung spezifischen Faktor.

Bei Baumaschinen werden die ROPS-Prüfungen nach der ISO 3471 durchgeführt. Basis für die Berechnung der Prüfenergien und -kräfte ist hier immer das zulässige Gesamtgewicht. Die Prüfung wird in drei Schritten (seitliche Belastung, Druckbelastung von oben auf die gesamte Dachfläche sowie Längsbelastung von hinten) durchgeführt. Für Spezialmaschinen gelten Sonderregelungen – hier wird im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung teilweise nur ein Umkippen (Tip Over) angenommen und geprüft.

Dabei ist zu beachten, dass beim heute üblicherweise angewandten statischen Prüfverfahren nur noch die wesentlichen Teile der beschützenden Struktur (Kabine, Überrollbügel) auf den Prüfstand aufgespannt werden müssen. Auf den Unterbau (Rahmen, Getriebegehäuse und Achsen) wird die Kabine inklusive der Lagerungen, der Silentblöcke oder anderen Federungen montiert. Die Kabine, die in der Regel ein Prototyp ist, muss inklusive aller Bohrungen und Versteifungen und verschweißter Halterungen exakt der späteren Serienfertigung entsprechen. Da die Gefahr besteht, dass Türen, Scheiben oder Verkleidungen im Falle eines Umsturzes offen stehen oder sich gar nicht mehr am Fahrzeug befinden können, sind diese bei der Prüfung nicht montiert, obwohl sie theoretisch versteifend wirken, also einen zusätzlichen Schutz bieten können.

Unfallursache: Nicht angeschnallt

Neu seit dem Herstellungsjahr 2018 ist für Traktoren auch das Gurtsystem, mit dem alle ab dem 1. Januar 2018 zugelassenen Traktormodelle in Verbindung mit der oben beschriebenen Überrollschutzstruktur (ROPS) ausgerüstet sein müssen. Im einfachsten Fall ist dies ein Beckengurt. Der Gurt dient bei einem Unfall oder Umsturz dazu, den Fahrer auf seinem Platz und damit innerhalb des von der Kabinen-Sicherheitsstruktur bereitgestellten Überlebensfreiraums zu halten. Auf der Straße herrscht damit auch Anschnallpflicht, denn laut § 21a Absatz 1 der Straßenverkehrsordnung ist auch bei Traktoren ein vorhandenes Gurtsystem auf Fahrer- und Beifahrersitz zu verwenden.

Dies gilt freilich nur auf der Straße, wenngleich auch auf dem Feld das Anlegen des Sicherheitsgurts dringend zu empfehlen ist. Just im Berichtsjahr 2018 wurden der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau insgesamt 28 Traktorenunfälle mit tödlichem Ausgang gemeldet – ein trauriger Höchststand in den letzten fünf Jahren. Nach eingehenden Untersuchungen der Unfallursachen hätte ein Großteil der tödlichen Verletzungsfolgen durch ein Gurtsystem in Verbindung mit der Umsturzschutzvorrichtung verhindert werden können.

Ähnlich wie bei den Kabinen, die inklusive ihrer Befestigungspunkte geprüft werden, müssen sich neben dem Gurtmaterial selbst auch dessen Verschlüsse, Nahtstellen und Verankerungspunkte einer Prüfung unterziehen. Diese werden als Zugprüfungen ausgeführt.

Unfallursache: Herunterfallende Gegenstände

Als weitere Gefahrenquelle besteht bei Traktoren mit Frontladern die Gefahr, dass diese von herabfallenden Gegenständen getroffen werden. Lebensgefahr besteht hier insbesondere beim Stapeln von Rund- und Großballen oder von Obst- und Gemüsekisten.

Seit ihrem Inkrafttreten zum Jahresbeginn 2016 schreiben die Delegierte Verordnung (EU) Nr. 1322/2014 der Kommission und die durch selbige konkretisierte „Tractor Mother Regulation“ (Verordnung (EU) Nr. 167/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates) vor, dass Traktoren mit Frontladern a) mindestens mit einer Vier-Pfosten-Umsturzschutzvorrichtung oder einer Kabine ausgerüstet sein müssen und b) eine erweiterte Schutzeinrichtung, zum Beispiel FOPS-Dach, zum Schutz vor herabfallenden Gegenständen besitzen müssen.

Damit ist die nachträgliche Montage eines Frontladers an einen nach dem 1. Januar 2016 erstmals zugelassenen Traktor ohne FOPS-Einrichtung nicht mehr erlaubt. Ältere Maschinen genießen Bestandsschutz.

Wichtig ist dies vor allem bei der zunehmenden Zahl von Kleintraktoren, wie sie vielfach auf Pferdebetrieben und im Hobbybereich zum Einsatz kommen. Selbst wenn diese bei Neuzulassung ab 2018 nur einen Überrollbügel benötigen, muss beim Anbau eines Frontladers mindestens ein FOPS-Schutz verbaut sein, der mindestens einer Prüfenergie von 1.365 J standhält. Dies bedeutet, dass mit dem Frontlader gegebenenfalls auch ein geprüftes und zugelassenes FOPS-Dach oder -Gitter nachgerüstet werden muss. Wie oben erwähnt, ist darauf zu achten, dass dieses an der ROPS-Einrichtung nur an vorhandenen Befestigungspunkten oder per Klemmung befestigt werden darf.

In der FOPS-Prüfung für Traktoren und kleine Baumaschinen wird durch eine aus über 3 m herabfallende Kugel mit einem Gewicht von 45 kg das Herabfallen kleinerer Steine oder Handwerkzeuge simuliert. Kabinen von großen Bau- und Forstmaschinen müssen höheren Energieanforderungen von 5,8 kJ beziehungsweise11,6 kJ standhalten, was einem fallenden Gewicht von 288 kg bei einer Fallhöhe von über 4 m auf die Schutzstruktur entspricht.

Fazit

Traktorkabinen sind nicht nur der schönste Arbeitsplatz der Welt, sondern auch ein Arbeitsort, an dem die Arbeitssicherheit groß geschrieben wird. Auch wenn eine hundertprozentige Sicherheit niemals garantiert werden kann: Geprüfte Sicherheitsstrukturen tragen dazu bei, dass Bediener und Fahrer von Traktoren, Baumaschinen und Lkw im Fall eines Unfalls bestmöglich geschützt sind. Alle oben genannten Sicherheitsprüfungen an Kabinen und Gurten werden im DLG-Testzentrum Technik und Betriebsmittel durchgeführt. Insgesamt sind dies über 200 Prüfungen pro Jahr, für Ihre Sicherheit!

Autor: Thilo Keunecke, DLG-Testzentrum Technik & Betriebsmittel
t.keunecke@DLG.org