Krieg in der Ukraine
Hubertus Paetow mahnt an: Aus der Erschütterung in die Erkenntnis!
Die Leitplanken in der globalen Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Energiepolitik werden seit dem Angriff auf die Ukraine, seit Beginn dieses völkerrechtswidrigen Krieges, mit großer Vehemenz neu ausgerichtet. Warum? Weil unsere grundlegende Gewissheit, dass Krieg im Kernland Europas ausgeschlossen ist, seitdem nicht mehr existiert. Unfassbares Leid überzieht seit 14 Tagen die Menschen in der Ukraine: Tod, Verletzung, Traumatisierung, Flucht aus der Heimat.
Als Partner der europäischen und internationalen Landwirtschaft und als Vertreter eines freien Europas mit dem Recht auf Freiheit, Frieden, Selbstbestimmung aller Staaten und mit dem Recht auf grenzüberschreitenden persönlichen und fachlichen Austausch betrachtet die DLG den Angriff auf die Ukraine mit großer Sorge und Erschütterung. Freiheit, Frieden und Selbstbestimmung sind Voraussetzungen für ein gesellschaftliches Wohlergehen und dürfen nirgendwo zur Disposition stehen. Dass wir unsere Aktivitäten in Russland ruhen lassen, ist selbstverständlich. Wir und unsere Mitglieder sind in Gedanken und mit tätiger und materieller Hilfe bei den vom Krieg betroffenen Menschen. Dazu verweise ich zum Beispiel auf die Spendenaktion „Aktion Kleiner Prinz“.
In diesem Geschehen ist die international verflochtene Agrarbranche unmittelbar und zentral involviert und die Auswirkungen werden global spürbar sein. Daher ist es notwendig, sich aus der Erschütterung in die rationale, vernunftgesteuerte Erkenntnis vorzuarbeiten.
Unsere Inputs: Futtermittel, Energie, Dünger, Pflanzenschutzmittel, Technologie und Knowhow sind Teil des internationalen Austausches. Unsere Produkte werden über den ganzen Erdball gehandelt, sie sind essenziell und eine menschliche Existenzvoraussetzung. Wenn es in diesem sensibel austarierten System des globalen Austausches Umwälzungen durch Krieg oder Naturkatastrophen gibt, haben wir es daher mit Auswirkungen zu tun, deren Bandbreite von spürbaren Teuerungen bis zur Bedrohung der physischen Existenz reicht.
Wer es bislang noch nicht wusste: Der Agrarsektor ist ein strategischer Sektor! Die aktuellen Marktverwerfungen sind ein klares Zeichen dafür, wie fragil das weltweite Ernährungssystem ist, vor allem auch durch die weltweiten Handelsverflechtungen. Und das ganz besonders, wenn sie von wenigen Lieferanten und Nachfragern dominiert werden. Noch sind die konkreten Auswirkungen des Krieges auf die Verfügbarkeit von Getreide und Ölsaaten aus der nächsten Ernte nicht in Gänze abzusehen. Sowohl in Russland als auch in der Ukraine wird in 2022 voraussichtlich deutlich weniger geerntet werden. In der Ukraine wird kriegsbedingt weniger Fläche bestellt werden. Teilweise fehlen Dünge- und Pflanzenschutzmittel und die Logistik ist stark beschädigt. Inwieweit die Sanktionen auf die Exporte russischer Ernten einen Einfluss haben, ist jetzt noch nicht ausgemacht, aber auch in Russland wird es erwartbar zur Reduktion der gehandelten Mengen kommen. Nicht zuletzt auch hier wegen der Hindernisse bei der Logistik. Immerhin standen Russland und Ukraine zuletzt bei Weizen für knapp 30% und bei Mais für rund 18% des weltweiten Handels. Wenn es hier zu Einbrüchen kommt, wird das einen spürbaren Unterschied machen, was ja auch an den Seismografen der Börsen ablesbar ist.
Etwas anderes ist es mit dem allgemeinen Verständnis dessen, was wir heute mit "Ernährungssicherheit" umschreiben. Dabei geht es um die Orientierung des Fortschritts in den Ernährungssystemen an den ersten beiden SDGs (Sustainable Development Goals/Nachhaltigkeitsziele der UN): Wohlstand und Freiheit von Hunger. Um diese Ziele zu erreichen, müssen die Preise für Nahrungsmittel für alle Menschen in so einem Verhältnis zum verfügbaren Einkommen stehen, dass dieses Einkommen sowohl für die Ernährung als auch für die sonstigen Grundbedürfnisse ausreicht.
Und hier kommen die Agrarpreise und im Zusammenhang damit die Produktionskosten ins Spiel. Wenn also hier durch politische Rahmenbedingungen die Produktionskosten pro Tonne Getreide (nicht pro ha) steigen, gefährdet dies die globale Nachhaltigkeit in einer Weise, die natürlich zuerst in den Regionen und bei den Bevölkerungsgruppen zu spüren ist, die schon heute einen übergroßen Teil ihres Einkommens für die Ernährung ausgeben müssen.
In dieser Gemengelage geht es nicht darum, die Uhren zurückzudrehen und alle Wahrheiten aus der Diskussion um Tierwohl, Klimawandel und Artenschwund über Bord zu werfen. Ziel der Anpassung des Agrarsektors an diese um den aktuellen Krieg erweiterten Grundkoordinaten kann nur sein, die Faktoren Flächenproduktivität und Produktionskosten bei der Abwägung der Zielkonflikte mit dem richtigen Gewicht zu versehen. Und dieses Gewicht hat sich durch die aktuelle Situation insoweit erhöht, als dass man sich bei der Argumentation für die anderen Ziele wie Biodiversität oder Klimaschutz auch etwas mehr Mühe geben und vor allem den gesellschaftlichen Fortschritt durch zielkonfliktlösende Innovationen bei Technologien in Stall und auf dem Feld beherzter umsetzen muss. Nachhaltige Produktivitätssteigerung!