Ukraine-Krieg
Hubertus Paetow zu den neuen Zielkonflikten in der Agrarpolitik
In den letzten Jahrzehnten haben der globale Handel mit Agrargütern und die dadurch ermöglichte Nutzung der positiven Effekte einer Spezialisierung der Standorte große Fortschritte in der Ernährungssicherung ermöglicht - trotz Nachfragesteigerungen aufgrund von Bevölkerungswachstum und steigendem Fleischkonsum gibt es heute weniger Hunger auf der Welt als vor 20 Jahren. Osteuropa hat einen erheblichen Anteil an dieser Entwicklung, denn die Transformation der ehemaligen Sowjetrepubliken in marktwirtschaftliche Systeme hat zu erheblichen Produktivitätssteigerungen und damit zu einer wesentlichen Verbesserung der weltweiten Nahrungsmittelverfügbarkeit geführt.
Die Schwarzmeerregion ist im Zuge dieser Transformation zum Hauptexporteur für Brotgetreide und Öle geworden. Damit sind aber auch Konzentrationen in den Lieferketten entstanden, die jetzt zu erheblichen Risiken in der Versorgung der Importländer insbesondere in Afrika führen.
Die aktuelle Preissteigerung bei Nahrungsmitteln hat schon vor dem Ukrainekrieg begonnen, wird jetzt aber durch den potentiellen Ausfall der Region als Lieferant sowie durch die globale Krise auf den Energiemärkten noch einmal erheblich verstärkt. Eine ausreichende Versorgung der ärmeren Importländer in Afrika und Asien ist bereits heute in Gefahr.
Damit ist das Thema globale Ernährungssicherheit in einer Dringlichkeit und Dramatik wieder auf der weltpolitischen Tagesordnung angekommen, mit der man in den vergangenen Jahren nicht gerechnet hätte.
Die Konzepte und Strategien einer Transformation des deutschen und europäischen Agrarsektors bleiben zwar gültig, müssen jedoch im Angesicht dieser Situation neu durchdacht werden. Denn Grundlage dieser Strategien ist eine ausreichende Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, und diese Grundlage ist kurz- und mittelfristig nicht mehr selbstverständlich. Und damit verringert sich der Spielraum für extensive Landnutzungskonzepte.
Die Zielkonflikte zwischen den ökologischen und ökonomischen Zielen der Flächennutzung, zwischen Nahrungsmittelversorgung und Biodiversitätserhalt sind bislang in jeder ernsthaft lösungsorientierten Diskussion über die Zukunft der Landwirtschaft ein zentrales Thema gewesen. Daher ist das Konzept der ausbalancierten Nachhaltigkeit Grundlage von Green Deal und Farm-to-Fork-Strategie sowie Leitlinie des Abschlussberichtes der Zukunftskommission Landwirtschaft und der Vorschläge der Borchert-Kommission.
Sogar das Pariser Klimaabkommen von 2015 enthält direkt im Anschluss an die vielzitierte Vereinbarung zum 2-Grad-Ziel den bemerkenswerten und viel seltener zitierten Satz, dass alle Anpassungs- und Vermeidungsmaßnahmen zum Klimawandel in keinem Fall die Nahrungsmittelerzeugung gefährden dürfen.
Eine extreme Intensivierung der Nahrungsmittelerzeugung mit gravierenden negativen Folgen für Biodiversität und Klima kann nur eine kurzfristige Entlastung auf den Märkten bringen. Langfristig kann Ernährung nur gesichert werden, wenn die Ökosysteme funktionsfähig bleiben und das Klima den Ansprüchen der Nutzpflanzen entspricht. Und dazu müssen die Produktionssysteme ökologisch verträglich und klimaschonend weiterentwickelt werden - bei möglichst geringer Einschränkung der Flächenproduktivität.
Wenn wir dies aus der Perspektive der Betriebe sehen, so heißt Ernährungssicherheit natürlich höchstmöglicher Flächenertrag - aber ob dieser zwangsläufig mit 100 kg Stickstoffüberschuss und Ackern bis an den Grabenrand verbunden sein muss, ist mindestens fragwürdig. Und genauso sicher kann Ökologisierung hervorragend durch ökologischen Landbau herbeigeführt werden - aber wenn damit langfristig eine Ertragslücke von 30 bis 50 Prozent verbunden ist, kann das nur als Auftrag zur Weiterentwicklung des Systems verstanden werden.
In der aktuellen Diskussion klingt es häufig so, als gäbe es zwischen Produktion und Ökologie ausschließlich Zielkonflikte. Dabei gibt es aus dem Bereich der Innovationen vieles, was beiden Zielen gleichermaßen zugutekommt. Verlustärmere und bedarfsorientierte Düngeverfahren, neue Pflanzenschutzsysteme mit weniger Auswirkungen auf die Biodiversität, neue Sorten mit verbesserten Resistenzen sind nur ein kleiner Teil des Spektrums.
Die aktuelle Situation mit ihren vielfältigen Krisen fordert unsere Gesellschaft in allen Bereichen. Die Ernährungssicherung ist ein wichtiges Thema, auch geostrategisch. Mit einer Aufkündigung aller gemeinsam gefundenen Strategien für ein zukunftsfähiges nachhaltiges Ernährungssystem ist aber keinem geholfen - das gilt sowohl für die Forderung nach Freigabe aller ökologischen Vorrangflächen als auch für den Vorschlag einer nicht konsumangepassten Reduktion der Tierbestände.
Das heißt aber nicht, dass man in allen Bereichen so weiter machen sollte wie bisher.
Ein gutes Beispiel ist die Umsetzung der EU-Nitratrichtline in Deutschland. Eine vorgeschriebene 20-prozentige Unterdüngung von Pflanzenbeständen zur Sanierung belasteter Grundwasserkörper verursacht zunächst einmal erhebliche Ertragseinbußen. Diese übersteigen bei Weitem den Effekt der aktuellen ökologischen Vorrangflächen auf die Versorgung. Und diese Verluste fallen auf den aktuell knapp versorgten Märkten viel stärker ins Gewicht als zu Zeiten ausgeglichener Versorgung. Daher müssen heute auch viel höhere Anforderungen an die fachlich korrekte Ausweisung der wirklich belasteten Gebiete sowie an die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung durch die Einschränkungen gestellt werden.
Ob die aktuellen Initiativen zu Messstellen und Binnendifferenzierung diesen Anforderungen gerecht werden und welchen Einfluss die aktuellen Düngerpreise auf die Überschüsse ganz ohne Verbote haben, sollte die Politik intensiv prüfen. Denkbar wäre hier ein Moratorium, ähnlich dem, das die EU-Kommission aktuell in Bezug auf den Green Deal erwägt. Nicht um Zeit zu schinden, sondern um diese Zeit zu nutzen, die Instrumente an die veränderten Anforderungen anzupassen.
Die gemeinsam beschlossenen Strategien und insbesondere ihre Ziele stehen nicht zur Disposition. Ihre Umsetzung wird angesichts der steigenden Knappheiten aber noch anspruchsvoller, als sie es ohnehin schon ist. Hier muss an vielen Stellen nachgesteuert werden.
Umso wichtiger ist die konsequente Nutzung von nachhaltigen Innovationen und marktwirtschaftlichen Lösungen, von Kooperationsmodellen zwischen Landwirtschaft und Naturschutz und von lösungsorientierten Diskussionsformaten wie Borchert und ZKL, einschließlich beherzter Umsetzung der Vorschläge.
Dies sind Auszüge aus einem Beitrag, der erstmals in dem Nachrichtendienst AgraEurope erschienen ist.