Tank oder Teller?
Dr. Hermann Onko Aeikens versteht die aktuelle Versorgungslage als Weckruf
Preiseexplosionen bei Vorleistungen wie Düngemitteln sowie Energie und landwirtschaftlichen Produkten können in Verbindung mit Störungen der Lieferketten schwerwiegende Verwerfungen verursachen. Die Hungermärsche in Nordafrika vor mehr als einem Jahrzehnt haben zur Destabilisierung dieser Region und zu verstärkten Flüchtlingsströmen in Richtung Europa geführt. Eine Wiederholung der Geschichte ist hier nicht ausgeschlossen.
In der EU und in Deutschland mit Selbstversorgungsgraden von 100 und mehr Prozent bei den wichtigsten Agrargütern ist auch angesichts unserer Kaufkraft nicht von generellen Versorgungsengpässen auszugehen. Lieferprobleme bei Spezialitäten wie Sonnenblumenöl aus der Ukraine gefährden die allgemeine Versorgunglage in Deutschland nicht. Die deutlichen Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln gilt es für einkommensschwache Schichten aufzufangen. Hier ist gezielte Sozialpolitik gefordert.
Über 800 Mio. chronisch hungernde und 2 bis 3 Mrd. nicht ausreichend ernährte Menschen waren in den vergangenen Jahren kaum Gegenstand besorgter Berichterstattung. Es schimmerte da und dort eine gewisse Selbstzufriedenheit durch, dass der Anteil der Hungernden an der Gesamtbevölkerung der Erde ja abnahm und immer mehr Staaten in der Lage waren, ihre Bevölkerung durch eigenen Anbau oder Zukäufe ausreichend zu ernähren.
Die derzeitige Lage kann als Weckruf verstanden werden, das Thema Welternährung nachdrücklicher auf die internationale Agenda zu heben und sich nun mit mehr Konsequenz und Entschlossenheit der Reduzierung und möglichst der Beseitigung des Hungers zu widmen.
Über welche Stellschrauben verfügen wir, um den Märkten mehr Nahrungsmittel zuzuführen?
- Unser Verbraucherverhalten ist von mangelndem Respekt gegenüber Nahrungsmitteln geprägt. 75 kg je Kopf und Jahr werden in Deutschland an Nahrungsmitteln weggeworfen, der überwiegende Teil davon in privaten Haushalten. Andere wohlhabende Industriestaaten weisen ähnliche Zahlen auf. Ursächlich dafür sind vor allem unüberlegtes und wenig geplantes Einkaufs - und Konsumverhalten. Das mag sich bei steigenden Lebensmittelpreisen zum Besseren wenden, staatliche Appelle haben bisher wenig gefruchtet.
- Preisbewegungen auf den Rohstoffmärkten bilden nicht immer die tatsächlichen Verfügbarkeiten und Knappheiten ab. Sie sind nicht frei von spekulativen Elementen zum besonderen Nachteil für die Ärmsten dieser Welt. Seit der Liberalisierung der Finanzmärkte vor rund 20 Jahren haben sich die Umsätze an den Märkten vervielfacht. Die Absicherung von Warentermingeschäften muss nicht verboten werden. Sie tragen durchaus zur Existenzsicherung landwirtschaftlicher Betriebe bei. Aber auch angesichts der geringen Zahl der Akteure mit entsprechender Marktmacht kann hier eine kritische Aufsicht der Politik nicht schaden. Nahrungsmittel sind ein besonderes Gut. Die internationale Staatengemeinschaft sollte die Nahrungsmittelspekulation zum Gegenstand näherer Betrachtung machen.
- Agrarprotektionistische Maßnahmen verschärfen die Situation auf den Nahrungsmittelmärkten. Indien, einer der bedeutendsten Weizenproduzenten, hat kürzlich ein Weizenexportverbot erlassen. Dadurch erfolgt eine weitere Verknappung der gehandelten Mengen mit entsprechenden Preissteigerungseffekten. Ein Rückfall in den Protektionismus hätte in der derzeitigen Situation fatale Folgen, die primär die ärmsten Staaten zu tragen hätten. Hier ist die internationale Staatengemeinschaft gefragt, dem Verfall des Freihandels zu begegnen.
- Immer wieder wird der globale Fleischkonsum als Beschleuniger von Hungerkatastrophen kritisiert. Hier muss man differenzieren zwischen Fleisch, das auf Weideland erzeugt wurde, dessen Aufwuchs keine sinnvollen alternativen Verwendungen zulässt und Fleisch, das mit der Verfütterung von Ackerfrüchten erzeugt wurde. Der Umweg über den Tiermagen kostet Kalorien, die der menschlichen Ernährung entzogen werden. Diese Feststellung ist nicht wissenschaftlich zu widerlegen. Ein reduzierter Fleischkonsum und eine stärker pflanzenbasierte Ernährung schaffen Spielräume zur Ernährung zusätzlicher Menschen. Ein weiteres Argument für eine Ernährungsumstellung ist der Einfluss des Fleischkonsums auf die Gesundheit. Ernährungswissenschaftler raten den Deutschen zu einer Halbierung des Fleischkonsums.
Wenn das Thema der Ernährungssicherung auf dieser Welt ernsthaft in Angriff genommen werden soll, darf der hohe Fleischkonsum in den wohlhabenden Staaten nicht tabuisiert werden. Dabei ist klar, dass sich Verzehrgewohnheiten nur langsam ändern und wir über eine ohnehin gebeutelte Branche sprechen.
- Grüne Gentechnik ist in manchen Kreisen ein Reizbegriff. Dabei freuen wir uns, dass uns die rote Gentechnik in der Medizin sehr zügig nach Ausbruch der Corona-Pandemie in die Lage versetzt hat, wirksame Impfstoffe bereitzustellen. Die Anwendung gentechnischer Methoden in der Landwirtschaft findet dagegen in Mitteleuropa und besonders in Deutschland kaum Akzeptanz. Firmen werben sogar mit dem Label „ohne Gentechnik“, um Verbrauchgunst zu gewinnen. Dabei muss man zwischen verschiedenen gentechnischen Verfahren differenzieren. Es hat hier in den vergangenen Jahren gewaltige wissenschaftliche Fortschritte gegeben, die allerdings vom derzeitigen zwanzig Jahre alten EU-Rechtsrahmen nicht erfasst werden.
Gentechnische Verfahren können die Erträge von unseren Feldern erhöhen und Qualitäten des Erntegutes steigern bei gleichzeitiger Reduzierung des Einsatzes von Pflanzenschutz- und Düngemitteln. Der Weg zu einer klima- und umweltfreundlicheren Produktion ist eigentlich ein verlockendes Angebot für politische Kreise, denen diese Themen besonders wichtig sind. Auch Ertragspotentiale des Ökolandbaues ließen sich mit Hilfe der Gentechnik deutlich steigern. Bisher hat wissenschaftliche Erkenntnis ideologische Vorbehalte jedoch nicht überwinden können.
- Sind nun angesichts der drohenden Ausweitung des Hungers in der Welt Verpflichtungen zur Stilllegung von landwirtschaftlichen Flächen passend? Auf der Frühjahrsagrarministerkonferenz hat man sich heftig darüber gestritten, ob 2023 die Verpflichtung, 4 Prozent der Ackerfläche stillzulegen, nicht auszusetzen sei. Zwar hielte sich der Effekt auf die Weltmärkte in Grenzen, doch muss die temporäre Aussetzung einer ökologischen Verpflichtung nicht als verantwortungslos gebrandmarkt werden. Das Konzept einer ausbalancierten Nachhaltigkeit sollte dadurch nicht gefährdet werden.
- „Essen ist immer noch wichtiger als Tanken“, so lautete kürzlich die Überschrift eines Artikels in einer Fachzeitschrift. Erhebliche Potentiale zur Erschließung von Nahrungsmittelreserven liegen in der Reduzierung der industriellen und insbesondere der energetischen Nutzung landwirtschaftlicher Rohstoffe. In Deutschland werden inzwischen über 20 Prozent der Ackerfläche für diese Zwecke eingesetzt, Tendenz steigend. Dabei hat sich der so genutzte Flächenanteil in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren fast verfünffacht. Hinter den USA, Brasilien und Indonesien liegt Deutschland auf Platz vier in der Biokraftstoffproduktion. Von der globalen Getreideerzeugung finden rund 9 Prozent und von der Pflanzenölproduktion etwa 15 Prozent Verwendung als Biosprit.
Für die Herstellung von Biogas, Biodiesel und Bioethanol werden in Deutschland über 2,2 Mio. ha in Anspruch genommen, davon allein 1,5 Mio. ha für die Biogasproduktion. Es geht bei Biogas auch anders. In Dänemark werden die Biogasanlagen primär mit Reststoffen und Gülle betrieben, weniger mit den Früchten des Ackers.
Bioenergie ist zudem deutlich teurer als andere erneuerbare Energien. Durch Beimischungszwänge wird der Einsatz von Biokraftstoffen allerdings gesichert. Die Erschließung einer weiteren Absatzschiene und eine Reduzierung von Treibhausgasemissionen waren seinerzeit die Motive des verstärkten Einsatzes von Biokraftstoffen. Ein generelles Tempolimit könnte allerdings auch einen Beitrag zur Minderung der verkehrsbedingten Emissionen leisten.
Das Bundesumweltministerium hat angesichts der veränderten Versorgungs- und Preislage bei Nahrungsmitteln Pläne zum abgestuften Ausstieg aus der Biokraftstoffproduktion bis 2030 entwickelt. Ein diesbezüglicher Gesetzesentwurf soll im Juni in die Ressortabstimmung gegeben werden. Von den Umweltministern der Länder wurde diese Initiative begrüßt. Auch in anderen europäischen Staaten werden ähnliche Überlegungen angestellt. In den USA, wo ohnehin ein deutlich höherer Anteil der Ernten in der Kraftstoffproduktion Verwendung findet, geht die Tendenz in die gegenteilige Richtung, dort erhöht man den Biokraftstoffanteil noch.
Sehr kritisch äußerte sich die Präsidentin der Deutschen Welthungerhilfe zur Produktion von Biosprit. Auch der Präsident der Weltbank sprach sich für die Abschaffung von Programmen aus, die Biosprit fördern und damit Nahrungsmittel verdrängen.
Diese Diskussion muss ehrlich geführt werden, Bioenergie aus Abfall- und Reststoffen sollten kein Problem darstellen. Bei anhaltend angespannter Welternährungslage - und hier ist auch aufgrund der Folgen des Klimawandels und des ungebrochenen Bevölkerungswachstums wenig Entspannung in Sicht - muss über den Umfang der Verwendung von Ackerfrüchten für die Energieproduktion diskutiert werden. Aus der Wissenschaft wurde der Vorschlag unterbreitet, preisabhängige Beimischungsquoten einzuführen. Die Staatengemeinschaft ist hier in einer gemeinsamen Verantwortung.
Ein Weiter so hinsichtlich der Verwendung von Ackerfrüchten für Nichtnahrungszwecke ist angesichts der Verantwortung der wohlhabenden Staaten gegenüber den Ärmsten dieser Welt nicht vertretbar. Wir dürfen bei der Priorisierung der Nahrungsmittelproduktion aber auch die Nachhaltigkeitsziele nicht aus dem Blick verlieren.
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen warnte unlängst davor, Prinzipien der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes in Zusammenhang mit der Nahrungsmittelproduktion aufzugeben. Landwirtschaft muss nach wie vor nachhaltiger und produktiver werden. Bei der Nachhaltigkeit hat die konventionelle Landwirtschaft noch erhebliche Reserven, wie es auch im Abschlussbericht der Zukunftskommission festgehalten wurde, bei der Produktivität muss der ökologische Landbau besser werden.
Nahrungsmittel zu produzieren ist die vorrangige Aufgabe unserer Landwirte, gerade angesichts der derzeitigen Verwerfungen. Durch die Erfüllung dieses primären Auftrages mit mehr Flächeneffizienz unter Wahrung von Nachhaltigkeit und Berücksichtigung von Tierwohl kann unsere Landwirtschaft auch die ersehnte Wertschätzung der Gesellschaft wiedererlangen.