Zu gut für die Tonne
Als Teil der Nationalen Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung fand im Rahmen des Dialogforums Primärproduktion der dritte Durchlauf der Runden Tische für die Produktgruppen Getreide, Gemüse und Obst statt. Ziel der Online-Veranstaltungen war es, über den Status quo zu informieren und mit Interessierten in den Informations- und Erfahrungsaustausch zu treten:
- An welchem Punkt stehen wir mit unseren Maßnahmen und der Verbesserung der Datenlage?
- Gibt es schon erfolgversprechende Ansatzpunkte?
- Was sagen die Praktiker:innen?
Gemeinsam mit Unternehmen werden aktuell Maßnahmen zur Reduzierung von Lebensmittelabfällen am Anfang der Lebensmittelversorgungskette identifiziert, in Demonstrationsbetrieben getestet und bewertet. Das Dialogforum Primärproduktion wird von der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG) koordiniert und in Zusammenarbeit mit dem Thünen-Institut (TI) als Partner umgesetzt.
Runder Tisch Gemüse am 12. Mai 2022
Die Demonstrationsbetriebe im Bereich Obst und Gemüse führen aktuell beispielhafte Maßnahmen zur Reduzierung von Lebensmittelverlusten durch. Hierzu zählen die Vermarktung von B-Ware, die Veredelung von B-Ware zu Futtermitteln über Insektenzucht bis hin zu einer Lockerung der Qualitätsstandards des Handels. Das Thünen-Institut (TI) nimmt Nachhaltigkeitsbewertungen aller Reduzierungsmaßnahmen vor, die bis zum Herbst 2022 abgeschlossen sein sollen.
Eine vom TI durchgeführte Umfrage zu Lebensmittelabfällen und -verlusten in der Primärproduktion mit 460 Teilnehmenden verspricht ebenso interessante Ergebnisse mit einem hohen Mehrwert für die Praxis wie vom Dialogforum Primärproduktion betreute wissenschaftliche Arbeiten dazu. Bei einer Bachelorthesis stehen ausgewählte Gemüsekulturen der landwirtschaftlichen Primärproduktion in Deutschland im Fokus (HS Weihenstephan-Triesdorf).
In einer anderen Bachelorthesis werden die Ursachen für Lebensmittelabfälle und -verluste und Maßnahmen dagegen in Supply Chains von Blatt- und „Ready to Eat“-Salaten erforscht (HS Geisenheim). In einer dritten Arbeit wird ein Konzept zur Erstellung einer Informationsplattform über Reduzierungsmaßnahmen für Akteure aus der Obst- und Gemüseproduktion und -verarbeitung entwickelt (HS Geisenheim).
Um Lebensmittelverschwendung zu reduzieren, stellt das Dialogforum Primärproduktion Landwirt:innen eine Liste mit Start-Ups zur Verfügung, die Lebensmittel abnehmen und überschüssige und schwer verkaufsfähige Produkte sinnvoll verwerten. Über die Liste können sich Landwirt:innen mit Start-ups in ihrer Region vernetzen, um insbesondere schnell verderbliche Lebensmittel auf kurzem Wege zu retten.
Obst mit Schönheitsfehlern
Einen praktischen Einblick aus Sicht eines Demonstrationsbetriebs gab Dr. Marion Schweckhorst von der Erzeugergenossenschaft Landgard Obst & Gemüse. Das Unternehmen sieht sich mit der Nachfrage nach hochwertigen Produkten konfrontiert, die aufgrund äußerer Einflüsse nicht immer bedient werden kann. Ziel ist es, mehr Aufmerksamkeit zu erreichen, um zu mehr Nachhaltigkeit entlang der Wertschöpfungskette zu kommen, auch indem Obst und Gemüse mit Schönheitsfehlern konsumiert wird. „Es muss vieles optimiert werden, um den Qualitätsanforderungen zu genügen. Deshalb geht es neben ökologischen und ökonomischen auch um wertschätzende Aspekte der Arbeit der Erzeuger:innen im Gartenbau und deren Anerkennung. Der Verbraucher ist langfristig zu sensibilisieren und dies mehr denn je, da die Ressourcen knapp werden“, so die Referentin. Mit dem Label „IssSo“ wird beispielsweise Obst und Gemüse vermarktet, das durch Umweltfaktoren wie Hagelschäden beeinträchtigt wurde. Im Demonstrationsbetrieb wird untersucht, welche positiven Umweltauswirkungen es hätte, wenn Gemüse, das die Qualitätsstandards nicht erfüllt, vermarktet und nicht untergepflügt würde.
Ernterückstände zur Humusreproduktion
Prof. Franz Wiesler, ehem. LUFA Speyer, informierte über „Nachhaltige Mineralstoff- und Humushaushalte in der Pflanzenproduktion“. Dabei ordnete er die Bedeutung der Reduzierung der Lebensmittelverschwendung im Kontext der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie und im europäischen und globalen Rahmen ein. Er stellte die Relevanz eines integrierten Stickstoff (N)-Managements zur Verbesserung der N-Effizienz hinsichtlich der Aufrechterhaltung hoher Erträge und Qualitäten bei einer intensiven Gemüseproduktion vor. Dabei betonte er die Herausforderung einer ausreichenden Humusreproduktion im Gemüsebau aufgrund humuszehrender Fruchtarten und einer geringen Humusreproduktionsleistung von Ernterückständen. Neben hohen Ansprüchen an die Qualität organischer Dünger ist seinen Worten zufolge auch die Gestaltung der Fruchtfolge sehr wichtig, die gezielt zur Entwicklung eines integrierten N- und Humusmanagements eingesetzt werden kann. Er wies darauf hin, dass der Einfluss des Unterpflügens auf die N-Bilanz berücksichtigt werden müsse.
Am Ende gab es eine Diskussionsrunde zur Frage, wo das Thema Lebensmittelverschwendung in fünf bis zehn Jahren steht. Einigkeit herrschte darüber, dass sich derzeit viel tue und eine erfolgreiche Reduktion der Lebensmittelverschwendung – neben Ansatzpunkten in der Primärproduktion - eine höhere Wertschätzung von Lebensmitteln bei den Verbraucher:innen voraussetzt. Verschiedene Maßnahmen können dazu beitragen, wie etwa eine verstärkte Kommunikation der Produzent:innen zur Verbraucheraufklärung, Ernährungsbildung in Schulen, mehr Transparenz in der Produktion oder eine intensivere Zusammenarbeit an den Schnittstellen.
Runder Tisch Getreide am 18. Mai 2022
Bei den Demonstrationsbetrieben im Getreidebereich steht vor allem die Lagerhaltung im Fokus. Welche Verluste fallen hier an und welche Reduktionsmaßnahmen werden bereits wie umgesetzt? Auch Substanzverluste während der Lagerung von Weizen bei unterschiedlicher Behandlung der Rohware im Lager werden aktuell gemessen und verglichen. Die Nachhaltigkeitsbewertungen des TI für alle untersuchten Reduzierungsmaßnahmen sollen im Herbst 2022 vorliegen.
Eine vom TI durchgeführte Umfrage zu Lebensmittelabfällen und -verlusten in der Primärproduktion mit 460 Teilnehmenden, die meisten davon im Bereich Getreide, verspricht ebenso interessante Ergebnisse mit einem hohen Mehrwert für die Praxis wie die vom Dialogforum Primärproduktion betreute Masterarbeit „Reduzierung von Lebensmittelverlusten in den Getreidelagerstätten der Primärstufe“ der Georg-August-Universität Göttingen.
Verluste im Getreidelager
Maximilian Stork vom Beratungsring Ackerbau Rheinhessen/Pfalz berichtete aus seiner täglichen Praxis, dass vor allem eine nicht ordnungsgemäße Lagerung des Getreides zu Verlusten führt. Deshalb sind Belüftung, Getreidevorreinigung sowie eine Siebreinigung entscheidend. Wichtig ist auch, das Lager vor dem Befüllen zu reinigen und Restmengen zu vermarkten, um so Kapazitäten für die nächste Ernte zu schaffen. Auch müssen Schadstellen bekämpft und die eingelagerte Ware regelmäßig kontrolliert werden. Dass sie einwandfrei sein muss, versteht sich von selbst. Zur Vorernte sollte entsprechend der Vorgaben der Düngeverordnung gedüngt werden und Pflanzenschutz gezielt eingesetzt werden. Mitarbeiterschulungen, Kontrolle der Feuchtigkeit im Getreide, saubere Arbeitsgeräte und die richtige Einstellung des Mähdreschers sind essenziell, um Verluste zu minimieren.
Mehr Wissen über die eigenen Flächen
Über die „Verschiebung auf den Getreidemärkten“ informierte Andreas Lieke, Geschäftsführer der Ländlichen Betriebsgründungs- und Beratungsgesellschaft (LBB) in seinem Impulsvortrag. Er skizzierte Wege, wie Ökonomie und Ökologie geschickt vereint werden können, um Betriebe in Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit positiv weiterzuentwickeln. Sein Fazit: Landwirt:innen benötigen heute ein großes vielfältiges Wissen über Marktentwicklungen, Anbauverfahren und über ihre eigenen Flächen.
Die abschließende Diskussion machte deutlich, dass heute die Weichen für den Erfolg von morgen gestellt werden müssen. Einigkeit herrschte darüber, dass eine erfolgreiche Bekämpfung der Lebensmittelverschwendung eine höhere Wertschätzung von Lebensmitteln voraussetzt, die durch verschiedene Maßnahmen erzielt werden kann. Hierzu zählen unter anderem eine verstärkte Verbraucheraufklärung, Ernährungsbildung in Schulen, mehr Transparenz in der Produktion und ein stärkerer Zusammenhalt der Stakeholder.
Runder Tisch Obst am 20. Mai 2022
Einen Einblick in die Praxis gab Nikolaus Frhr. v. Mentzingen, der auf seinem Hof Spargel und Erdbeeren anbaut und über Straßenstände direkt vermarktet. Da Erdbeeren sehr empfindlich sind und bei großer Hitze schnell Druckstellen auftreten, dörrt er Erdbeeren in betriebseigenen Dörröfen und verkauft diese als Erdbeerchips. Nicht (mehr) vermarktungsfähige Erdbeeren können auf diese Weise haltbar gemacht und der menschlichen Ernährung zugeführt werden. Diese Erdbeerchips eignen sich beispielsweise für Desserts in der Gastronomie oder als Zutat im Müsli. Wie nicht vermarktungsfähiger Spargel weiter verwertet werden kann, beschäftigt ihn aktuell.
Der zweite Teil der Veranstaltung wurde mit einer kurzen Umfrage unter den Teilnehmenden eröffnet, bei der die Erfahrungen mit der steuerlichen Änderung für Lebensmittelspenden von Interesse waren. Ob und an wen die Teilnehmenden Lebensmittel spenden und ob sie sich mit dem 2021 aktualisierten Umsatzsteueranwendungserlass mit steuerlichen Erleichterungen für Lebensmittelspenden auskennen, wurde gefragt. Viele Teilnehmer:innen spenden bereits an soziale Einrichtungen oder die Tafel. Der aktualisierte Umsatzsteueranwendungserlass war den meisten nicht bekannt.
Start-ups retten Lebensmittel
Der Impulsvortag „Ein anderes Kaliber: Zweite-Wahl-Lebensmittel“ von Heike Zeller (aHeu) informierte über potenzielle Vermarktungswege und Kommunikationsmöglichkeiten zur Reduzierung von Lebensmittelverlusten. Dabei gab sie einen umfassenden Überblick über Start-ups, die Obst, Gemüse, aber auch andere Lebensmittel retten, haltbar machen und über Onlineshops vermarkten.
Wolfgang Hees, Landwirt und Mitglied des Ernährungsrates Freiburg, veranschaulichte im Interview, wie er rund 30 Prozent Ausschuss-Möhren mit geringen Mängeln für zwei Zielgruppen vermarktet: Fingerfood Babymöhren bis 70 g und Gastromöhren über 2 kg. Weitere Möglichkeiten bieten Direktvermarkter, die das Produkt für Caterer aufbereiten.