„Subsistenzwirtschaft ist in Kriegszeiten äußerst resilient“
Hans Georg Hassenpflug zur Förderung der Grünen Berufe in der Ukraine
Die landwirtschaftlichen Betriebe in der Ukraine müssen unter großen Schwierigkeiten Getreide und Ölsaaten anbauen. Viele Mitarbeiter sind an der Front, Kämpfe, Granatenbeschuss und Luftangriffe mit Kampfjets, Hubschraubern, Raketen und Drohnen haben verheerende Folgen für die Menschen im Land. Gesundheitseinrichtungen und die Wasserversorgung sind zerstört, außerdem auch rund 400 Schulen. Die Studierenden der Grünen Berufe haben kaum noch die Möglichkeit, eine geordnete Ausbildung zu durchlaufen und zu beenden. Damit diese Generation nicht verloren geht, engagiert sich das Bilaterale Deutsch-Ukrainische Kooperationsprojekt „Förderung der Berufsausbildung an den landwirtschaftlichen Colleges in der Ukraine – FABU“ unter der Leitung von Hans Georg Hassenpflug im Auftrag des BMEL, um den jungen Studierenden der ukrainischen Agrarcolleges neue Wege und Möglichkeiten in der Ausbildung zu eröffnen.
Auf dem Global Forum for Agriculture (GFFA) 2023 haben die beiden Agrarminister Cem Özdemir und Mykola Solskyi Hassenpflug für seine Leistungen und den Einsatz des gesamten FABU-Teams unter den durch die Kriegsereignisse in der Ukraine erschwerten Bedingungen ausgezeichnet.
Am Rande der internationalen Tagung für Bildung und Beratung in der Landwirtschaft (IALB) im September in Dresden sprach Hassenpflug mit dem DLG-Mitgliedernewsletter.
DLG: Ist die Solidarität für die Ukraine abgeebbt?
Hans Georg Hassenpflug: Nein. Die nationale und internationale Anteilnahme am Krieg in der Ukraine und am Schicksal der dort lebenden Menschen ist immer noch sehr groß. Laut Schätzungen des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) haben mittlerweile etwa zehn Millionen Menschen die Ukraine in Folge des Krieges verlassen. Hinzu kommen Binnenflüchtlinge in einer Größenordnung von 7 bis 8 Millionen Menschen, die sich innerhalb der Ukraine in Sicherheit gebracht haben. Konsequenz: 17 bis 18 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.
FABU hat in den vergangenen Monaten auf einer riesigen Welle der Hilfsbereitschaft gemeinsam mit der Albrecht-Thaer-Gesellschaft in Celle und mit Unterstützung durch den Landfrauenverband Niedersachsen und anderer Verbände für die Landwirtschaft in der Ukraine Hilfstransporte in die Kriegsregionen organisiert.
Unter welchen Bedingungen können die landwirtschaftlichen Betriebe derzeit produzieren?
Die Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie spielen in der ukrainischen Wirtschaft eine sehr wichtige Rolle. Der Export von Agrargütern ist ein ganz wichtiger Eckpfeiler der ukrainischen Wirtschaft. Auch als Arbeitgeber ist die Landwirtschaft von großer Bedeutung. Laut Angaben des Statistikamtes waren 2019 rund 3 Millionen von landesweit insgesamt 16,6 Millionen Beschäftigten in diesem Sektor tätig.
Weit verbreitet ist dabei Substistenzwirtschaft. In Kriegszeiten erweisen sich subsistente Einheiten im Gegensatz zu den Großbetrieben und Agrarholdings als äußerst resilient.
Rund 70 Prozent der Flächen entfallen auf etwa 45.000 landwirtschaftliche Betriebe, die ihr Land überwiegend von privaten Landeigentümern, aber auch vom Staat gepachtet haben. Mit einer bewirtschafteten Fläche von knapp 6 Millionen Hektar stehen die Hauswirtschaften für rund 22 Prozent der Agrarproduktion der Ukraine.
Viele landwirtschaftliche Nutzflächen in der Süd- und Ostukraine sind infolge des Beschusses vollständig verbrannt. Dort, wo früher zum Beispiel Mais und Weizen wuchsen, sind durch Raketeneinschläge riesige Krater entstanden und behindern die Bewirtschaftung der Flächen.
Russische Minen machen die Arbeit der Bauern auf den Feldern lebensgefährlich. In der Feldmark sieht man heimatlose Kühe, Schafe und Ziegen. Ihre Euter sind voller Milch, aber niemand ist da, um sie zu melken. Die Besitzer dieser Tiere sind entweder tot oder überstürzt geflohen.
Etwa 20 Prozent der ukrainischen Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig. Während die Bevölkerung aus den Städten in den Westen flüchten kann, halten die Landwirte auf ihren Betrieben die Stellung. Diese Bauernfamilien können und wollen ihr Vieh, ihre Felder und ihre Landtechnik auch im Krieg nicht einfach dem Schicksal überlassen.
Mit welchen Problemen kämpfen die Tierhalter in der Ukraine?
Vom Krieg betroffen sind auch die ukrainischen Tierhalter. 3 Millionen Rinder wurden noch im Jahr 2020 in der Ukraine gehalten, davon 1,8 Millionen Kühe, außerdem sechs Millionen Schweine und 200 Millionen Hühner. Bereits vor dem Krieg wiesen die Bestände eine fallende Tendenz auf. Der Krieg hat die Entwicklung der Bestandsreduzierung insbesondere beim Milchvieh und in der Schweinehaltung beschleunigt. Viele Nutztierbestände sind von den Verarbeitungsbetrieben abgeschnitten, und die Verarbeiter wiederum von den Verbrauchern und Märkten.
Die wichtigsten Straßen und Brücken sind in vielen Regionen der Ukraine zerstört. Entweder von den russischen Bomben – oder von der ukrainischen Armee, um die Invasoren aufzuhalten.
Die ukrainischen Landwirte geben deshalb der verbliebenen Bevölkerung und der ukrainischen Armee die Rohmilch und schon verarbeitete Milchprodukte günstig und oft sogar kostenlos ab.
Fehlendes Futter bereitet ebenso Probleme wie fehlende Tierarzneimittel und eine nicht verfügbare tierärztliche Versorgung. Großflächige Notschlachtungen scheiden als Lösung häufig aus, weil kriegsbedingt auch das Personal und die Infrastruktur der großen Schlachthöfe fehlen.
Das Unternehmen Cherkasy Azot – mit einer Produktionskapazität von jährlich 3 Millionen Tonnen Stickstoffdünger und 6.000 Mitarbeiter*innen einer der größten ukrainischen Düngerhersteller – hat seinen Hauptbetrieb südlich von Kiew eingestellt.
Auch die Produktionsanlage im Hafen von Odessa mit einer Kapazität von 1 Million Tonnen Ammoniak und 600.000 Tonnen Harnstoff wurde geschlossen.
Umgekehrt fehlen durch den Krieg von Russland gegen die Ukraine innerhalb der EU zunehmend LKW-Fahrer – und auch Erntehelfer*innen.
Wie stellt sich die aktuelle Situation in der landwirtschaftlichen Berufsausbildung dar?
Hassenpflug: Die landwirtschaftliche Berufsausbildung war auf einem guten Weg, den Anschluss an die europäischen Bildungsstandards zu erreichen. Im Krieg wurden bisher mehr als 3.500 Bildungseinrichtungen (Universitäten, Schulen und Kindergärten) bombardiert, beschossen oder zerstört. Mehr als 400 Schulen sind zerstört. Durch den Krieg wird Millionen Kindern und Jugendlichen der Zugang zur Bildung/Ausbildung erschwert. Nach Angaben des ukrainischen Bildungsministeriums (MBW) besuchen nur noch etwa 1,0 Million Schüler eine Präsenzschule. Etwa 1,3 Millionen Schüler erhalten abwechselnd ohne Planung kurzfristig Unterricht im Online- bzw. Präsenz-Modus. 1,9 Millionen werden virtuell im Home Schooling unterrichtet.
Da viele Schulen/Colleges nicht nutzbar sind, konnte im September nur jede dritte Schule in der Ukraine den Präsenzunterricht wieder aufnehmen, da ausschließlich nur noch Einrichtungen mit Schutzräumen für den Unterricht genutzt werden dürfen. Aber auch diese Art von Bildung ist wegen der russischen Angriffe auf alle denkbaren Arten von Infrastruktur gefährdet und bedeutet eine "ständige Herausforderung" für die Schulen/Colleges.
Fernlehre ist technisch und vor allem emotional auf Dauer keine Lösung. Sie ist außerdem abhängig von der Verfügbarkeit einer Internetverbindung, stellt werktätige Eltern mit kleineren Kindern vor Probleme und kann Familien in Gefahr bringen, sobald die Besatzungsbehörden beginnen, den ukrainischen „Untergrund“-Unterricht zu sanktionieren.
Nach Angaben des ukrainischen Ombudsmanns für Bildung befinden sich aktuell auch etwa 26.000 ukrainische Lehrer*innen und 700.000 bis 1,5 Millionen schulpflichtige Kinder/Jugendliche als Kriegsflüchtlinge im Ausland. Das verschärft die Situation in der Bildung/Ausbildung in der Ukraine und teilweise auch in den aufnehmenden Staaten zusätzlich – am meisten leiden darunter aber die Betroffenen selbst. Eine praktische Ausbildung auf den Betrieben (Technologisches Praktikum) ist nur in wenigen Fällen möglich. Das Schulwesen in den besetzten Gebieten wird inzwischen radikal und konsequent russifiziert.
Welche Ziele verfolgt das Bilaterale Deutsch-Ukrainische Pilotprojekt?
Hassenpflug: Das Bilaterale Deutsch-Ukrainische Pilotprojekt „Förderung der Berufsausbildung an landwirtschaftlichen Colleges in der Ukraine (FABU)“ hat das Ziel, die Ukraine beim Aufbau und der Entwicklung einer leistungsstarken, effizienten, ressourcenschonenden und unternehmerischen Landwirtschaft zu unterstützen. Konkret bedeutet dies in der aktuellen Situation zum Beispiel, den Agrarcolleges bei der Organisation, Gestaltung und Durchführung des Präsenz-, Wechsel- und Distanzunterrichts zu helfen. Festzuhalten ist, dass sich durch den Krieg die Arbeitsschwerpunkte verlagert haben. Aktuell werden mehr Lehrmodule für den Online-Unterricht und das Selbststudium entwickelt, mehr Prüfungen im Online-Format durchgeführt und mehr Praxisangebote durch die Studierenden im Ausland wahrgenommen.
Nach welchen Kriterien werden die Studierende ausgewählt?
Die AgrarKontakte International (AKI) e.V. in Stuttgart ist für die Organisation zuständig. Grundsätzlich sollte man für die Planung seines Auslandsaufenthalts in Deutschland 6 bis 12 Monate an Vorbereitungszeit ansetzen. Um am Praktikumsprogramm teilnehmen zu können, bedarf es einer schriftlichen Bewerbung. Für die die Bewerbungsunterlagen werden mindestens ein Anschreiben, der Lebenslauf sowie qualifizierende Zeugnisse und Zertifikate benötigt, die verfasst, erstellt und/oder zusammengestellt werden müssen.
In dem Bewerbungsschreiben sollte die Motivation und Zielsetzung des/der Studierenden, die er/sie mit dem Praktikum verbindet, klar zum Ausdruck gebracht werden.
Die letzte Hürde auf dem Weg zum Praktikum in Deutschland stellt für die Studierenden der Agrarcolleges die Ausstellung eines Aufenthaltstitels dar. Hierzu muss der Student den Nachweis erbringen, dass er ein studienfachbezogenes Praktikum machen wird, bei Praktikumsbeginn bereits vier Fachsemester oder mehr abgeschlossen hat und einen Abschluss in einem Beruf anstrebt, der mit einem Abschluss in Deutschland vergleichbar ist.
Viele Betriebe in Süddeutschland sind bereit, ukrainische Junglandwirte aufzunehmen. Allerdings entsprechen die kleineren Betriebsgrößen weniger den ukrainischen Verhältnissen. Wie lösen Sie das Problem?
Hassenpflug: Dieses Problem wird mit Hilfe der Unterstützungdiverser Einrichtungen gelöst. Ein wichtiger Partner ist die DEULA in Triesdorf. Hier werden Praktikanten nach ihrer Einreise auf ihren Aufenthalt auf den Betrieben vorbereitet. Betreuer von Agrarkontakte International in Stuttgart führen während des sechsmonatigen Praktikums Treffen für die Gruppe durch. Bei dem Praktikum in Deutschland geht es weniger um die Vermittlung von Grundlagenwissen/Einzelaspekten, vielmehr steht in der betrieblichen Ausbildung verstärkt das Beobachten/Erkennen von Zusammenhängen und Wechselwirkungen im Vordergrund. Dazu ist die Betriebsgröße nicht so entscheidend.
Ein Ziel des Bilateralen Deutsch-Ukrainischen Projektes FABU ist es, den Studierenden in dem Praktikum Wege aufzeigen, wie man auf der Grundlage von Fachwissen persönliche und berufliche Handlungsfähigkeit und die dazu erforderlichen Kompetenzen erlangt.
Praktikum ukrainischer Studierender in Deutschland
AgrarKontakte International (AKI) e.V. ( GF Falk Kullen und PM Olga Rybakova)
Wollgrasweg 31, 70599 Stuttgart
E-Mail: aki@agrarkontakte.de
Tel.: +49 (0) 711 6520587-0
Wissenschaftlich und Methodisches Zentrum für die Hochschul- und weiterführende Berufsbildung - WMZ VFPO (Koordinatorin Lesia Shcherbakova)
11 Smilianska str., Kyiv, 03151, Ukraine.
E-Mail: nmc.vfpo@ukr.net
Tel.: +38(044) 242-35-68
FABU Büro (PA Kateryna Yanyk)
11 Smilianska str., App. 39, Kyiv, 03151, Ukraine.
E-Mail: kateryna.yanyk@adt.de
Tel.: +38 044 243 73 14
ADT Project Consulting GmbH (Hans Georg Hassenpflug und Prof. Dr. Andriy Getya)
Adenauerallee 176, 53113 Bonn
E-Mail: adtproject@adt.de
Tel.: + 49 228 9 14 47-30
Agritechnica 2023: Pflanzenproduktion
in der Ukraine
Auf der Agritechnica 2023 in Hannover veranstaltet der Deutsch-Ukrainische Agrarpolitische Dialog zusammen mit der DLG e.V. am 15. November 2023 die Podiumsdiskussion: „Pflanzenproduktion in der Ukraine - Auswirkung des Krieges und Perspektiven des nachhaltigen Wiederaufbaus: Wie verändern sich die Unternehmensstrategien“?
Veranstalter: Deutsch-Ukrainischer Agrarpolitischer Dialog, DLG e.V.
15. November 2023, 9:30 bis 12:00 Uhr
Messegelände Hannover, Convention Center, Saal 3B