Mehr Lebensmittelsicherheit und Nachhaltigkeit mit Blockchain
Interview
Die Blockchain hat sich über den Finanzsektor hinaus zu einer ernstzunehmenden Basistechnologie für industrielle Anwendungen entwickelt. In der Lebensmittelbranche finden sich viele Anwendungen, in denen die Technologie ihre Vorteile ausspielen kann. DLG-Lebensmittel im Gespräch mit Christian Schultze-Wolters, Geschäftsbereichsleiter Blockchain Solutions bei IBM DACH.
Herr Schultze-Wolters, welche Möglichkeiten eröffnet der Einsatz der Blockchain-Technologie in der Ernährungswirtschaft?
Kurz gesagt: viele. Die Branche steht vor großen Herausforderungen. Die Verbraucher wollen wissen, woher ihre Nahrung kommt, wie die Lebensmittel behandelt wurden oder wie die Tierhaltung konkret ausgesehen hat. Wer auf solche Fragen heute keine Antwort geben kann, verliert kurzfristig Vertrauen und langfristig Kunden. Technologien wie Blockchain, Cloud, IoT oder Sensorik und Anwendungsbereiche wie Industrie 4.0, Vertical Integration und E-Commerce bieten hier große Chancen zur Steigerung der Effizienz und zur Transparenz im Lebensmittelbereich. Vor allem in der globalen Handelslogistik gibt es Optimierungspotenziale durch die Blockchain: Supply-Chain-Prozesse werden dadurch schneller, übersichtlicher und kostengünstiger. Ein Beispiel dafür ist die branchenübergreifende, offene Plattform TradeLens, die wir zusammen mit der weltweit größten Containerschiff-Reederei Maersk entwickelt haben. Produzenten, Reedereien, Häfen, Zollbehörden und Käufer können damit die Lieferkette eines Produktes in Echtzeit verfolgen – manipulationssicher und „paperless“. TradeLens bringt nämlich alle Dokumente digital in die Blockchain und garantiert für deren Echtheit und Aktualität.
Mit IBM Food Trust haben Sie ein auf Blockchain basierendes weltweites Netzwerk für die Lebensmittelbranche geschaffen. Welche Vorteile bietet es den beteiligten Herstellern und Händlern?
IBM Food Trust ist eine globale Plattform, die wir gemeinsam mit Walmart aufgebaut haben. Damit ist die lückenlose und schnelle Nachverfolgung von Lebensmitteln möglich: Vom Acker bis ins Kühlregal wissen alle Beteiligten, wie und wann das Produkt hergestellt oder geerntet und bei welcher Temperatur es gelagert wurde. Das schafft Transparenz und Vertrauen bei allen Beteiligten. Und es senkt Kosten durch kürzere Wege und eine übersichtliche, digitale Dokumentation. Die Bestellungen sind besser planbar und die Produkte damit frischer im Handel vor Ort. Im Hintergrund steht eine private Blockchain, die auf IBM Cloud und Hyperledger Fabric basiert, und bei der man den individuellen Zugang zur Plattform durch Anmeldung erhält. Das Ziel ist keine uneingeschränkte Datenoffenlegung, sondern Datentransaktionen zwischen unterschiedlichen Parteien in einem Ökosystem selektiv transparent zu machen – weshalb sich auch konkurrierende Unternehmen beteiligen können.
Wie schnell und detailliert lässt sich in einer Blockchain-basierten Lieferkette im Krisenfall die Herkunft eines Lebensmittels zurückverfolgen?
Das geht tatsächlich rasant. Innerhalb kürzester Zeit hat man einen detaillierten Überblick, wer ein Produkt wann in den Händen hatte. Deshalb kam zum Beispiel Walmart auf uns zu, nachdem es in den USA Fälle von Kolibakterien auf grünem Salat und Spinat gegeben hatte. Wenn so etwas passiert, muss man sofort wissen, wer, wann, was, wohin geliefert hat, um schnell, zielgerichtet und effizient reagieren zu können.
Schließlich geht es dann um die Gesundheit der Verbraucher und auch um die Reputation eines betroffenen Unternehmens. Im Fall mit den oben genannten Kolibakterien lagen diese Informationen nicht vor, was dazu führte, dass die gesamte Charge US-weit zurückgezogen und vernichtet werden musste. In einem ersten einfachen Anwendungsszenario haben wir uns daraufhin angesehen, wie lange es bei Walmart dauert, bis man weiß, woher eine verarbeitete und verpackte Mango kommt. Diese Rückverfolgung dauert im bisher implementierten Prozess etwa sieben Tage. Mit IBM Food Trust weiß man mit einem Tastendruck, wann die Mango auf welcher Plantage in welcher Charge geerntet und wohin sie dann in der relevanten Lebensmittelkette zur Verarbeitung und zum Verkauf geliefert wurde. Diese Informationen benötigen Unternehmen z. B. zur Verbraucherinformation bzw. bei Kontaminationen oder Rückrufaktionen.
Neben Lebensmittelsicherheit gewinnt die nachhaltige Produktion von Nahrungsmitteln für die Verbraucher immer stärker an Bedeutung. Welche Möglichkeiten für mehr Transparenz bietet Ihre Blockchain-Lösung den Konsumenten?
Blockchain steht kurz gesagt für Transparenz und Vertrauen – und das in vielerlei Hinsicht. Hierzu möchte ich Ihnen gerne zwei konkrete Beispiele geben, die vor allem die Transparenz für den Konsumenten adressieren: Nehmen wir als erstes ein IBM-Food-Trust-basiertes Projekt bei Carrefour in Spanien: Dort können Verbraucher im Supermarkt durch das Scannen eines QR-Codes den Weg des Geflügels von der Aufzucht bis hin zur Schlachtung und weiter in den Supermarkt nachvollziehen, sich über die Art der (antibiotikafreien) Ernährung informieren und sehen, wo und wie lange das Fleisch transportiert wurde und seit wann es im Kühlregal liegt. Auch der Reifeprozess von Früchten auf dem Weg von Südamerika nach Deutschland lässt sich mit Blockchain und dem Einsatz von Sensorik wesentlich besser kontrollieren.
Ein weiteres Beispiel für den Einsatz von Blockchain kommt aus der Kaffeebranche: In der Region DACH arbeiten wir derzeit unter anderem mit Farmer Connect bzw. Sucafina zusammen, um die Rückverfolgung von Kaffee zum Erzeuger der Kaffeebohne zu vereinfachen. Diese ist aufgrund der globalen Lieferketten besonders schwer nachvollziehbar. Gleichzeitig konsumieren Kaffeetrinker heute aber mehr als eine halbe Milliarde Tassen pro Jahr; viele kaufen ihren Kaffee lieber, wenn er nachhaltig angebaut und verantwortungsvoll eingekauft wurde. Die auf IBM Blockchain basierende App „Thank my Farmer“ bezieht die Informationen direkt aus der Blockchain und verbindet den Verbraucher mit Bauern, Händlern, Röstern und Kaffee-Unternehmen. Über die App erfahren Kaffeetrinker so, welcher Bauer die Kaffeebohnen angebaut hat und ob es in der Anbauregion Nachhaltigkeitsprojekte gibt, die er unterstützen kann. Der Käufer scannt hierfür direkt am Regal den QR-Code auf der Packung – ein Mehrwert für Konsument und Produzent direkt im Supermarkt. Neue Technologien helfen so auch, die enorme Lebensmittelverschwendung zu mindern, denn auch das gehört zur Nachhaltigkeit. Pro Jahr landen allein in Deutschland fast 13 Millionen Tonnen Essen im Müll. An der Verringerung dieses „Food-Waste-Footprint“ kann der Konsument im Kleinen arbeiten, aber auch die Lebensmittelbranche ist hier in der Pflicht, diesen untragbaren Zustand signifikant zu verbessern – durch Nutzung von datengestützen Technologien wie KI-Planungsmodellen und Blockchain.
Weltweit sind bereits mehr als 200 Unternehmen Teil des IBM Food-Trust-Netzwerks. In den USA sind die vier größten Lebensmittelhändler dabei. Mit welchen Partnern arbeiten Sie in Europa und Deutschland zusammen?
Das Netzwerk ist in der Tat global und vereint das gesamte branchenrelevante Ökosystem auf einer Plattform – vom Bauern in Asien bis hin zum Verbraucher in Deutschland. Bereits 2017 haben sich neben Walmart neun weitere, auch in Europa tätige Unternehmen angeschlossen, u.a. Nestlé, Dole und Unilever – und dann im Oktober 2018 Carrefour. Insgesamt sind weltweit inzwischen mehr als 200 Partner aus unterschiedlichen Bereichen der Lebensmittelindustrie dabei und nutzen die Plattform mit mittlerweile mehr als 17.000 Artikeln. Viele teilnehmende Unternehmen starten mit individuellen Pilotprojekten, wie z.B. Carrefour mit „Mousline“ (Kartoffelpüree) in Frankreich und Geflügel im spanischen Markt. In der Region DACH arbeiten wir derzeit unter anderem mit Farmer Connect aus der Kaffeebranche zusammen. Aber man muss auch feststellen, dass besonders die deutsche Lebensmittelbranche hierbei im Vergleich zu vielen anderen Ländern und Regionen in der Welt noch sehr verhalten agiert.
IBM Food Trust ist das größte Netzwerk seiner Art, das Teilnehmer im Bereich der Lebensmittelversorgung über eine genehmigungsbasierte, dauerhafte und gemeinsame Aufzeichnung von Daten aus dem Nahrungsmittelsektor miteinander verbindet. Und ich bin überzeugt davon, dass in solchen digitalen Plattformen die Zukunft liegt. Die Digitalisierung und die damit einhergehende Transparenz ist sicher eine Herausforderung für die gesamte Lebensmittelbranche, aber gleichzeitig auch ein Lösungsweg, um sich im lokalen und globalen Wettbewerb nachhaltig gut aufzustellen und das Vertrauen der Verbraucher langfristig zurückzugewinnen.