Mit dem Auto zum Drive-in
Konsumentensensorik
Auswirkungen der Corona-Pandemie machen sich auch in der Lebensmittelsensorik bemerkbar. Durch kreative Probandenrekrutierung gelang es Forschern des Campus Wieselburg der Fachhochschule Wiener Neustadt, ihre Konsumenten-Sensorik dennoch aufrechtzuerhalten.
An einem kühlen Freitag Ende Oktober 2020 treffen um 7:30 Uhr die ersten Autos am Campus Wieselburg ein. Unter Einhaltung des aktuell geltenden Corona-Sicherheitsabstandes nehmen die Fahrer ihre Verkostungspakete von den Mitarbeitern des Research Centers of Sensory Science and Consumer Behavior entgegen und können innerhalb von Minuten das erste Pop-up-Schokoriegel-Drive-in Österreichs wieder verlassen. Jede Prüfperson hat ein Paket, bestehend aus zehn codierten Schokoriegeln, einem Beipackzettel mit Zugangs- und Probencodes sowie Incentives als Aufwandsentschädigung erhalten. Was zu tun ist, ist allen Schokoladenliebhabern bekannt. 411 begeisterte Verbraucher:innen haben sich in Rekordzeit mehr als 4.000 Schokoriegel abgeholt.
Herausforderungen kreativ begegnen
Die aktuelle Covid-19-Pandemie und die mit ihr einhergehenden, verschärften Hygienemaßnahmen in lebensmittelerzeugenden Betrieben stellt die Lebensmittel-Sensorik vor große Herausforderungen. Insbesondere die Verbraucherforschung, bei der eine große Anzahl an Prüfpersonen für statistisch fundierte Ergebnisse vonnöten ist, gerät aktuell an ihre Grenzen. Um die gewünschte Probandenanzahl zu standardisierten Bedingungen in Sensoriklaboren zu bedienen, sind ein stark erhöhter Ressourcenaufwand sowie ausgeklügelte Hygienekonzepte notwendig, die von vielen Institutionen aktuell nur schwer oder gar nicht aufzubringen sind. Von diesen Herausforderungen betroffen, sahen sich auch die wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen des Research Centers of Sensory Science and Consumer Behavior am Campus Wieselburg der Fachhochschule Wiener Neustadt. An der Hochschule werden regelmäßig sensorische Verkostungen mit Verbraucherpanels in Lehre, Forschung und als Unternehmenskooperationen durchgeführt. Um die Bereiche weiterhin am Laufen zu halten und weiter auszubauen, hat das Team nach innovativen und kreativen Lösungsansätzen gesucht und ist auch fündig geworden.
Zusammenspiel von Erfahrung, Kreativität und Mut
Für eine groß angelegte Forschungsstudie sollten im Herbst 2020 zehn Schokoriegel-Varianten mit rund 400 Verbraucher:innen verkostet, beschrieben und bewertet werden. Eine Verkostung im Sensoriklabor der Hochschule war zum Zeitpunkt der anhaltenden Corona-Pandemie im geplanten Ausmaß nicht denkbar. Die bisherigen Erfahrungen der Forschenden mit sensorischen Schnellmethoden, der Qualität von Home-Use-Tests und der damit verbundenen Rücklaufquote legten eine Optimierung dieses Settings für die geplante CATA-Analyse nahe. Unter Einhaltung der guten Sensorikpraxis sowie der staatlich festgelegten Corona-Maßnahmen zum Gesundheitsschutz der Prüfpersonen sowie des Testpersonals, wurde eine Abholstation für die Verkostungspakete eingerichtet: das erste Pop-up-Schokoriegel-Drive-in Österreichs.
Probanden im Mittelpunkt
Um die Probanden dazu zu motivieren, den Zusatzaufwand der Probenabholung auf sich zu nehmen, reicht es nicht, sie mit attraktiven Aufwandsentschädigungen zu locken. Kernziel muss es sein, ein Involvement zu schaffen und die Bedürfnisse der potenziellen Probanden zu erkennen und zu befriedigen. Im Fall einer sensorischen Verkostung liegen diese in der Selbstverwirklichung, aber auch im großen Interesse an ein wenig Normalität in Corona-Zeiten. Die Verbraucher:innen möchten Teil einer Entwicklung sein, etwas erschaffen und schaffen, zu „Wegbereitern der Genussvielfalt“ werden.
Social Media
In der aktuellen Krise setzten die Forschenden deshalb auf eine gezielte persönliche Ansprache der potenziellen Zielgruppe, wofür ein eigener Social-Media-Auftritt geschaffen wurde, um die potenziellen Prüfpersonen mit zielgerichtetem Wording in die Welt der Produktentwicklung und der damit verbundenen Sensorik einzuführen und Barrieren hinsichtlich der wissenschaftlichen Aufgabenstellungen abzubauen. Neben dem Involvement wurde der Kanal auch dazu genutzt, um wesentliche Informationen zur geplanten Verkostung schriftlich, aber insbesondere auch durch Foto- und Video-Tutorials an die Zielgruppe weiterzugeben. Ziel war es, eine Methodensicherheit unter den potenziellen Prüfpersonen für die Onlineerhebung sicherzustellen, die Barriere hinsichtlich der Probenabholung von einer wissenschaftlichen Einrichtung abzubauen und eine zeitsparende Abwicklung zu garantieren. So wurde ermöglicht, dass alle Prüfpersonen bereits vor der Abholung der Probenpakete eine klare Vorstellung davon hatten, was zu tun ist, welche Rahmenbedingungen für eine gute Sensorikpraxis zu Hause geschaffen werden müssen und wie viel Zeit dafür aufzuwenden ist.
Öffentlichkeit schaffen
Da nicht jede potenzielle Zielperson über Social Media erreicht werden kann, wurden zur Probandenrekrutierung auch Tagesmedien informiert. Der damit verliehene Eventcharakter spricht Menschen in Krisenzeiten, die geprägt von gefühlten Einschränkungen und Restriktionen sind, besonders an. So gelang es, dass das Schoko-Drive-in österreichweit im wahrsten Sinne des Wortes in aller Munde war. Sowohl in regionalen wie überregionalen Printmedien wurde über die geplante Probenausgabe mittels Schokoriegel-Drive-in berichtet. Die größte Tageszeitung des Landes forderte auf ihrer Titelseite zur Schokoriegelverkostung auf. Darüber hinaus wurden Radio und Fernsehen auf die Forschungsaktivitäten der Hochschule und dem damit einhergehenden „Event“ aufmerksam und berichteten landesweit über die geplante Studie.
Rücklaufquote bestätigt Konzept
Die Rücklaufquote der beantworteten Online-Fragebögen lag bei 63,06 %, die Abbruchquote bei weniger als 4 %. Werte, welche den bisherigen Home-Use-Tests des Forschungsteams außerhalb der Pandemiezeit entsprechen und den Erfolg dieses kreativen und innovativen Konzepts widerspiegeln.
Über die persönliche und zielgruppenspezifische Kommunikation kann, wie der Andrang zum Schokoriegel-Drive-in des Forschungsteams zeigt, eine Leidenschaft für den Bereich der Lebensmittelsensorik und eine außerordentliche Bereitschaft, an Produktentwicklungen mitzuwirken, bei den Verbraucher:innen geweckt werden.
Fazit
Krisen fordern Unternehmen und bringen die Menschen, die dahinter stehen, oft an ihre Grenzen. Aber jede Krise birgt auch neue Chancen, welche genutzt werden wollen. Es ist erforderlich, kreativ zu werden, um dann mit Mut, Fleiß und etwas Glück neue Wege zu gehen. Dem Research Center of Sensory Science and Consumer Behavior ist es trotz (oder vielmehr durch die) Krise gelungen, seine Forschungsaktivitäten im Bereich der Konsumenten-Sensorik weiter voranzutreiben und dank großem Medienecho öffentlich zu machen. Die hohe Rücklaufquote wurde durch die aktive Einbindung der Probanden in die Produktentwicklung und -modifikation als Wegbereiter einer neuen Genussvielfalt erzielt.
Kontakt:
Roswitha Enzelberger, BA MA, Fachhochschule Wiener Neustadt, Campus Wieselburg, roswitha.enzelberger@fhwn.ac.at