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Mit digitaler Brille in virtuelle Konsumwelten

Sensorische Produktforschung

aus: DLG-Lebensmittel 4/2020

Die zunehmende Digitalisierung bietet mit „Virtual Reality“-Anwendungen (VR) interessante Möglichkeiten für die Markt- und Sensorikforschung, um Produkttests noch realitätsgetreuer durchführen zu können. Aber auch hierbei ist eine detaillierte Testkonzeption erfolgsentscheidend. Experten des Instituts für Sensorikforschung und Innovationsberatung (isi) in Göttingen haben dazu gemeinsam mit der Hochschule Nordhausen mehrere Projekte im Bereich der sensorischen Produktforschung durchgeführt. Dabei konnte aufgezeigt werden, dass eine hohe externe Validität, das heißt die Generalisierbarkeit der Testergebnisse, vor allem von der Auswahl einer zu den Teststimuli passenden Testumgebung abhängt.

Normalerweise werden sensorische Produkttests mit Konsumenten angelegt als Labortests, als Home-Use-Tests (HUT) oder als Central Location Tests (CLT) in zentralen Testzentren, beispielsweise in der Nähe zu Fußgängerzonen mit viel Laufkundschaft. Der Vorteil von Labortests besteht darin, dass sich die Testbedingungen (z. B. Verzehrtemperatur, Lichtverhältnisse) sehr gut kontrollieren lassen. Problematisch ist hingegen die realitätsferne Testumgebung eines Labors. Beim Home-Use-Test ist es umgekehrt: Die realistische Verwendungssituation im eigenen Haushalt der Befragten wirkt sich positiv auf die Qualität der Ergebnisse aus, allerdings lassen sich die Testbedingungen dort nicht oder nur ansatzweise kontrollieren.

Von der Realität zur Virtualität

Um den Testkontext zu verbessern und die Konsumentenpanels möglichst realitätsnah in die Situation zu versetzen, in der das Produkt dann wahrscheinlich nach dem Kauf konsumiert und genutzt wird, eignen sich VR-gestützte Labortests. Die Testpersonen tauchen in eine für den Verwendungskontext typische virtuelle Testumgebung ein, die mittels VR-Brillen durch Video- und Audiosignale simuliert wird. Bezüglich des Testdesigns stellt insbesondere die Auswahl eines geeigneten Umfeld-Szenarios, das heißt einer zum Verwendungskontext passenden virtuellen Testumgebung (VR-Content), einen kritischen Erfolgsfaktor dar, die erhebliche Auswirkungen auf die Produktbewertungen und folglich auf die Qualität der Testergebnisse hat. Aktuell werden in Wissenschaft und Praxis empirische Untersuchungen durchgeführt, um den Einsatz von virtuellen Testumgebungen in der sensorischen Konsumentenforschung noch besser zu verstehen und das Untersuchungsdesign zu optimieren.

Virtual Reality-Anwendungen und der damit verbundene Einsatz von VR-Brillen in der Marktforschung sind ein aktuelles Thema, welches zunehmende Beachtung findet. Generell unterscheidet man in diesem Kontext verschiedene Testumgebungen (vgl. Abb. 1): Neben der üblichen Realität, in der Produkttests normalerweise durchgeführt werden, gibt es die augmentierte Realität (AR) und die augmentierte Virtualität (AV), die als gemischte Realitäten bezeichnet werden, wobei man Virtualität und Realität in Echtzeit kombiniert. So lassen sich in reale Räume (z. B. Küche) virtuelle Elemente (z. B. Wasserkocher) einbinden oder umgekehrt. Die virtuelle Realität (VR) geht noch einen Schritt weiter: Die meist über eine VR-Brille präsentierten Testumgebungen stellen eine komplett computergenerierte Realität mit 3D-Applikationen von Objekten und Personen sowie gegebenenfalls auch von Geräuschen dar, wobei diese sensorischen Stimuli ausschließlich im virtuellen Raum interagieren. Virtuelle Realität im weiteren Sinne erlaubt auch die Einbindung von 360°-Videos.

Geruchstest in virtueller Testumgebung

Im Rahmen einer von der Hochschule Nordhausen in Zusammenarbeit mit der isi GmbH in Göttingen durchgeführten, von der Computerwerk GmbH technisch unterstützten Studie verfolgten die Wissenschaftler das Projektziel nachzuweisen, dass eine hohe Interaktion zwischen der sensorischen Produktbeurteilung und der virtuellen Testumgebung besteht. Mit anderen Worten: Die virtuelle Testumgebung beeinflusst das Präferenzranking („order effect“) sowie die Akzeptanzbeurteilung („level effect“) der Testprodukte. Darüber hinaus sollten die technischen Anforderungen an VR-Lösungen ermittelt werden, die eine hohe externe Validität („Generalisierbarkeit“) der Ergebnisse gewährleisten.

Untersuchungsdesign

Für den als Blindtest angelegten Geruchstest wurden mittels qualitativer Vorstudien zwei flüssige Bodenreiniger ausgewählt, deren Düfte unterschiedliche Positionierungen im Modell der drei Motivsysteme (Sicherheit, Erregung und Autonomie) zu Grunde liegen:

  • Der Allzweckreiniger „Sommerfrische“ ist im Motivsystem „Erregung“ einzuordnen und stimuliert durch einen frischen, blumigen und anregenden Duft einen Wohlfühlfaktor.
  • Der Reiniger mit Aktiv-Chlor zahlt hingegen auf das Motivsystem „Sicherheit“ ein. Durch Assoziationen wie „professionell“ und „keimfrei“ soll ein hohes Maß an Reinheit und Hygie­ne vermittelt werden.

Die Produkte sprechen hinsichtlich der Reinigungsleistung unterschiedliche Bedürfnisse bzw. Werte an und sind somit auch jeweils für andere Nutzungssituationen geeignet. Hierzu mussten zwei passende virtuelle Testumgebungen geschaffen werden:

  • Für das erste Szenario wurde ein öffentlicher Wartebereich gewählt, der durch eine moderne Ausstattung und passende Dekorationselemente sehr angenehm gestaltet war (Anschlussfähigkeit an das Motivsystem „Erregung“).
  • Im zweiten Szenario fiel die Entscheidung auf einen öffentlichen Toilettenraum mit einer typisch funktionalen Ausstattung (Anschlussfähigkeit an das Motivsystem „Sicherheit“).

Die technische Umsetzung realisierte das Forschungsteam, indem 360°-Videos der beiden Reinigungssituationen gefilmt wurden. Für den Test kamen VR-Brillen des Typs „Oculus Go“ zum Einsatz, die durch das Einspielen der VR-Szenarien authentische Testumgebungen für die zu testenden Produkte gewährleisten sollten.
Aus den zwei Produkt- und den zwei VR-Stimuli ergaben sich vier mögliche Testkombinationen: „Sommerfrische/Wartebereich“, „Sommerfrische/Toilette“, „Chlorreiniger/Wartebereich“ sowie „Chlorreiniger/Toilette“. Es wurde ein monadischer Sensoriktest mit vier unabhängigen Stichproben realisiert, d. h. jede Testperson bekam nur eine der möglichen Kombinationen aus Reiniger und VR-Video. Dabei konnten nur Konsumenten teilnehmen, die Verwender dieser Produktkategorie sind, das heißt, Personen die mit der regelmäßigen Bodenpflege in ihrem Haushalt vertraut sind. Vor dem Test wurden die Teilnehmer in die sensorischen Beurteilungsaufgaben eingewiesen, und es wurde der Umgang mit der VR-Brille inklusive dem Controller als Eingabemedium geübt.

Um einen reibungslosen Testablauf sicherzustellen, durchliefen jeweils nur drei Testpersonen gleichzeitig den Geruchstest im Sensoriklabor. Nachdem durch das Personal Hilfestellung beim Aufsetzen der VR-Brille geleistet wurde, startete der Test mit den ersten Eingaben direkt durch die Testperson. Für die Befragung wurde die Standardsoftware für Konsumententests im Labor verwendet, wobei die Einblendung der Fragen sowie das Anklicken der Antworten über die VR-Brille bzw. den Controller erfolgten. Der Fragebogen steuerte den umfassenden Testablauf inklusive der VR-Inhalte, so dass die Teilnehmer ohne Unterbrechung über die gesamte Testdauer in die Reinigungssituation eintauchen und sich ohne Hilfe durch das Laborpersonal durch den Test navigieren konnten.

Durch die VR-gestützte Reinigungssituation hatten die Testpersonen den Eindruck, gerade den jeweiligen Raum des Geschehens zu betreten. Mittels der VR-Brille und entsprechenden Kopfbewegungen konnten sie sich im virtuellen Raum in alle Richtungen umsehen. Während die Reinigungsarbeiten im virtuellen Kontext abliefen, wurde einer der beiden Allzweckreiniger in verdünnter Form gereicht. Die Duftausbringung erfolgte in kleinen Gläsern. Auf diese Weise wurden die Teilnehmer in eine Situation versetzt, die das Produkt so realitätsnah wie möglich im späteren Einsatzbereich simulierte. Anhand eingeblendeter Fragen hatten die Testpersonen die Aufgabe, den Geruch affektiv zu bewerten (9-Punkte-Hedonik-Skala), die Akzeptanz der Geruchsintensität anzugeben (5-Punkte Just-about-right-Skala) sowie ihre spontanen Assoziationen (CATA) zum jeweiligen Testprodukt anzuklicken (Abb. 2).

Ergebnisse

Die Testpersonen bewerteten die beiden Bodenreiniger in Abhängigkeit von dem Anwendungskontext unterschiedlich: Die Akzeptanzbewertung des Reinigungsmittels war in der kongruenten virtuellen Testumgebung höher als in der inkongruenten Testsituation („level-effect“). Abbildung 3 veranschaulicht, dass die Bewertung des blumig riechenden Bodenreinigers in der Testumgebung „Wartebereich“ signifikant höher ist als im Kontext „Öffentliche Toilette“. Die Akzeptanz des Hygiene­reinigers mit Chlorgeruch ist hingegen in der Situation „Öffentliche Toilette“ signifikant höher als in der des „Warteraums“. Die Abbildung 3 verdeutlicht zudem, dass sich in Abhängigkeit von der virtuellen Testumgebung auch das Ranking der Testprodukte ändert („order-effect“). Die Ergebnisse der Studie belegen folglich, dass die Reihenfolge der affektiven Bewertung der Testprodukte von der virtuellen Umgebung, in der die Produkte getestet wurden, abhängig ist.

Fazit

Das Nutzenversprechen eines Produktes bestimmt die wahrgenommene Akzeptanz. Folglich lassen sich die wahren Präferenzen von Verbrauchern mittels geeigneter virtueller Testumgebungen besser abbilden als bei herkömmlichen Geruchstests im Sensoriklabor. Ergänzende Fragen zur Wahrnehmung und Beurteilung der Testsituation selbst deuten darauf hin, dass die Teilnehmer die kontextbezogene Akzeptanzbewertung mittels VR-Anwendungen als sehr realistisch empfanden. Darüber hinaus gaben sie positive Rückmeldungen zum Handling und zum reibungslosen technischen Ablauf des Produkttests mit den VR-Brillen.

Damit handelt es sich bei VR-Anwendungen auch in der sensorischen Produktforschung um ein interessantes Tool, dass die Testpersonen in einen zu den Testprodukten passenden Kontext versetzt. Allerdings ist es im Rahmen des Testdesigns und bei der Konzeption der virtuellen Inhalte wichtig, auf die Interaktion zwischen den Testprodukten und den VR-Testumgebungen zu achten. Zudem eignen sich nicht alle Produktkategorien uneingeschränkt dazu, VR-basierte Tests umzusetzen. So fehlt bei Geschmackstests für bestimmte Produkte einerseits die zwingend erforderliche visuelle Dimension (z. B. Farbe/Form/Textur eines Müsliriegels; Fruchtstücke im Joghurt). Andererseits  erschwert die VR-Brille die eigenständige Produkthandhabung in der typischen Verzehrssituation (Löffeln eines Produktes, Trinken aus einem Glas). Für Geruchstests hat dieses Projekt zumindest aufgezeigt, wie ein sensorischer Konsumententest im Labor in Kombination mit VR-Technologie ausgestaltet werden kann, um die externe Validität von Labortests zu erhöhen.