Lebensmittel-Neophobie
Zunehmend wichtiger Qualitätsparameter in der sensorischen Konsumentenforschung
DLG-Expertenwissen 01/2024
Autorin:
Dr.in Eva Derndorfer, Ernährungswissenschaftlerin und Sensorikexpertin, Fachbuchautorin, Beraterin und Lehrbeauftragte an mehreren Hochschulen, Wien/Österreich
eva@derndorfer.at, www.evaderndorfer.at
Die Literaturliste kann unter sensorik@dlg.org angefordert werden.
Hintergrund und Zielsetzung
Im Kontext des Einsatzes von alternativen Proteinen wird sowohl in der Produktentwicklung als auch im Produktmanagement in der Lebensmittelbranche kreativ experimentiert. Dabei finden eine Vielzahl neuer Rohstoffe und Zutaten Eingang in die Rezepturen, die für Konsumenten häufig unbekannt und unüblich als Lebensmittelzutat sind oder verfremdete Assoziationen und damit Ängste hervorrufen. Auch aufgrund kulturell oder biologisch bedingter Skepsis können Akzeptanzprobleme bei Verbrauchern entstehen.
Die Scheu, unbekannte Lebensmittel erstmals zu kosten nennt man Lebensmittel-Neophobie. Sie ist relevant für Kinder, die sich weigern, neue Speisen zu probieren – und damit auch für deren Eltern, Bildungsinstitutionen samt angebotener Gemeinschaftsverpflegung, sowie für Lebensmittelproduzenten, deren Zielgruppe (auch) Kinder sind. Sie ist aber auch relevant für Erwachsene, die mit neuen Produkten im Handel konfrontiert und wenig aufgeschlossen sind.
Neophobie ist kein neues Phänomen, sie wirft aber angesichts der Ernährungswende in Richtung pflanzenbetontes Essen neue Fragen auf. Etwa, ob Zielgruppen mit besonderer Ernährungsform besonders stark oder schwach neophob sind, oder wie man Menschen dazu bringt, neue Lebensmittel einmal auszuprobieren.
In diesem Expertenwissen wird erklärt, was Neophobie bedeutet und wie sie sich von Heikelkeit unterscheidet. Es wird veranschaulicht, wie Neophobie bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen gemessen werden kann. Biologische Ursachen für Neophobie werden besprochen und es wird beleuchtet, welche Personengruppen besonders davon betroffen sind. Letztlich werden die Auswirkungen auf die sensorische Praxis – in der Lebensmittelproduktion, Gemeinschaftsverpflegung, Marktforschung und Kommunikation – diskutiert.
WAS ist Neophobie?
Neophobie ist die Angst vor Neuem. Sie ist nicht auf Lebensmittel beschränkt, doch ist Lebensmittel-Neophobie (engl. Food neophobia) die am besten untersuchte Form der Neophobie. Menschen mit Lebensmittel-Neophobie haben eine ausgeprägte Scheu, neue, ihnen unbekannte Lebensmittel zu kosten und vermeiden diese daher.
Neophobie kann sowohl als Wesenszug einer Person (und als solcher stabil), als auch als (variabler) Zustand, der von der Lebensmittel-Umgebung abhängt, betrachtet werden (Rabadán & Bernabéu 2021).
Während die Neophobie einem Lebensmittel gegenüber mit dem erstmaligen Verkosten als überwunden gilt, ist Heikelkeit („picky eating“) das Ablehnen sehr vieler – bekannter und neuer – Lebensmittel. Neophobie ist somit nicht synonym für Heikelkeit, sondern wird je nach Autor:in entweder als etwas komplett anderes, als Subkomponente von Heikelkeit oder als ähnliches Konzept betrachtet.
WARUM gibt es Neophobie überhaupt?
Kleinkinder erkunden ihre Umgebung mit allen Sinnen. Je größer ihr Aktionsradius wird, desto wichtiger ist es, sich selbst vor potenziellen Gefahren zu schützen. Zu diesen Gefahren zählen – evolutionär betrachtet – auch unbekannte Lebensmittel. Auch wenn Lebensmittel heute sehr sicher sind, hat dieses biologische „Programm“ nicht an Bedeutung verloren. Neophobie verhindert nämlich auch, dass ein Kind andere potenziell giftige Dinge einfach in den Mund nimmt.
Gemüse sind besonders von Neophobie betroffen. Dass Kinder häufig Neophobie gegenüber pflanzlichen Lebensmitteln aufweisen, kann unterschiedlichste Ursachen haben:
- Manche Pflanzen bilden Toxine aus, um sich gegen andere, um den Standort konkurrierende Pflanzenarten, gegen Insekten, Fressfeinde oder Mikroorganismen zu schützen. Solche Pflanzentoxine können für Menschen schädlich sein, besonders aber für kleine Kinder, da die tolerierbare Dosis vom Körpergewicht abhängt. Bekannte Beispiele für Phytotoxine in Lebensmitteln sind Solanin (grüne Stellen in rohen Kartoffeln), Phasin (in rohen Bohnen) oder Blausäure (in Aprikosenkernen). Manche Pflanzengifte lassen sich mechanisch entfernen (z. B. Solanin durch Wegschneiden grüner Stellen), andere werden beim Kochen zerstört (z. B. Phasin). Leichte Solanin-Vergiftungen äußern sich in Form von Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall oder Fieber. Schwere Vergiftungen sind selten, führen jedoch zu Bewusstseinsstörungen, Störungen der Hirnfunktion, der Atmung oder des Kreislaufes (Bundesinstitut für Risikobewertung 2018). Blätter und andere Pflanzenteile sind häufiger Träger von Pflanzentoxinen als Früchte. Früchte sind relativ sicher, sie sind auch von der Pflanze „designed by the plant to be eaten“ (Cashdan 1998). Das könnte die häufigere Ablehnung von Gemüse im Vergleich zu Obst erklären. Cashdan (1998) befragte Eltern hinsichtlich der von ihren Kindern abgelehnten Lebensmitteln. Von 277 Nennungen betrafen 46 % Gemüse, hingegen nur 8 % Obst.
Kinder müssen somit lernen, welche Blätter genießbar sind und welche nicht. Auch Zimmerpflanzen sind ein potenzielles Risiko für Kleinkinder. Rioux & Wertz (2023) zeigten, dass Kinder bereits im Alter von 7-15 Monaten länger warten, bevor sie eine grüne Pflanze berühren als eine ähnliche Pflanze, die Früchte trägt.
In der Schweiz gab es zwischen 1966 und 1994 insgesamt 24.950 Meldungen von Pflanzenvergiftungen an das Schweizerische Toxikologische Informationszentrum, davon waren fünf Todesfälle. Deutlich häufiger fällt dies in Entwicklungsländern bei Kindern aus (Eddleston und Persson 2003).
- Eine weitere Ursache, warum besonders pflanzliche Lebensmittel stärker von Neophobie betroffen sind, könnte das Allergierisiko sein. Allergien gegen Pflanzen sind wohlbekannt. Von den 14 deklarationspflichtigen Allergenen betreffen nur fünf tierische Lebensmittel. D’Auria et al (2023) fanden, dass Allergien allerdings nur einen kleinen Einfluss auf die Neophobie von Kindern haben – Allergiker: innen waren geringfügig neophober als die Kontrollgruppe.
- Evolutionär ging es um ausreichende Nahrungs- und Energieaufnahme. Gemüse bietet wenig Energie, und von Hülsenfrüchten abgesehen auch wenig Protein.
- Viele Gemüse schmecken bitter, die Ablehnung für Bitterkeit ist angeboren und eine Vorliebe für bittere Lebensmittel muss erst durch Erfahrung / Kontakt mit dem Lebensmittel erworben werden.
Kinder suchen aber auch soziale Informationen über die Genusstauglicheit eines unbekannten Lebensmittels – etwa in Form eines Erwachsenen oder eines anderen Kindes, das das Lebensmittel gerade verzehrt.
WER ist davon betroffen?
Lebensmittel-Neophobie ist ein Alters-Phänomen.
Neophobie beginnt im Kleinkindalter, wenn Kinder im Alter von etwa zwei Jahren beginnen, unbekannten Lebensmitteln zu misstrauen. Diese als „Entwicklungsneophobie“ bezeichnete Neophobieform (Bialek-Dratwa et al 2022) steigt bis etwa 6-7 Jahren an und sinkt danach wieder ab. Je nach Studie sind unterschiedlich viele Kinder betroffen. Ein systematischer Review über Food Neophobie bei Kindern, bei dem 19 Studien zwischen 2000 und 2019 inkludiert waren, zeigt eine Bandbreite von 12,8 bis 100 % neophober Kinder auf (Torres et al 2020). In einer Studie von Hazley et al (2022) waren 68,5 % der irischen Sechsjährigen neophob, davon ca. 30 % stark ausgeprägt, und Buben im Alter von 1-12 Jahren häufiger betroffen als Mädchen. Saipudin et al (2022) befragten 126 Eltern in Malaysien und attestierten infolge 38,1 % der 4–6-jährigen Kinder Neophobie. Am häufigsten waren in dieser Studie 5-Jährige betroffen, Mädchen stärker als Buben. Diese unterschiedlichen Zahlen sind zumindest zum Teil darin begründet, dass die Einteilung nach Neophobiegrad in Studien sehr deutlich variiert (siehe Abschnitt „Wie kann Neophobie gemessen werden?“).
Bei Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen ist die Lebensmittelneophobie am niedrigsten ausgeprägt. In einer australischen online Befragung von > 600 Personen, großteils weiblich, waren Personen der Altersgruppe 18-24 jedoch mit größerer Wahrscheinlichkeit neophob als Befragte der Altersgruppe 25-34 (Hopkins et al 2023). Bei Erwachsenen gibt es keinen generellen Geschlechter-Unterschied in der Neophobie (Hazley et al 2022, Rabadán & Bernabéu 2021). Allerdings sind erwachsene Frauen eher fleischneophob als Männer, hingegen gibt es bei Erwachsenen keinen Geschlechterunterschied bei der Pflanzenneophobie. Die Empathie für Tiere korreliert positiv mit Fleischneophobie, spannenderweise gibt es aber einen noch größeren Zusammenhang mit Tierempathie und Pflanzenneophobie
(Cinar et al 2021).
Im mittleren Erwachsenenalter steigt die Neophobie wieder an. Das beginnt langsam, aber stetig bereits mit >54 Jahren (Hazley et al 2022). Für diesen zweiten Anstieg, der in einem Peak im hohen Alter mündet, gibt es mehrere Erklärungsversuche: höheres Ekelempfindungen oder das – im Gegensatz zur Gegenwart – unterschiedliche Lebensmittelangebot in der eigenen Kindheit (Hazley et al 2022). Im hohen Alter könnte auch Demenz ein Grund für Neophobie sein – wenn vergessen wurde, dass man ein Lebensmittel schon gekostet hat.
Neophobie ist ein familiäres Phänomen
Die Familie hat einen Anteil an der Entwicklung einer Neophobie. Das beginnt bereits im Säuglingsalter: Kinder, die nicht gestillt wurden, haben durchschnittlich stärker ausgeprägte Neophobie. Auch kürzere Stillzeit ist mit stärkerer Neophobie im Kindes- und Jugendalter assoziiert (Hazley et al 2022).
Kinder, deren Eltern weniger gebildet sind, sind stärker von Neophobie betroffen (Hazley et al 2022). Gebildete Eltern bieten ihren Kindern eine größere Bandbreite an Lebensmitteln an, Neophobie ist somit auch ein Bildungsthema. Auch Erwachsenen-Neophobie ist mit niedrigerer Bildung assoziiert.
Interessanterweise korreliert die kindliche Akzeptanz einer Speise deutlich stärker mit jener der Mutter als mit jener des Vaters (Donadini et al 2020). Mädchen, die eine Lebensmittel-Neophobie aufweisen, haben auch Mütter mit dieser Neophobie (Galloway et al 2003).
WO kommt Neophobie vor?
Neophobie ist – auch – ein geografisches Phänomen. Sie tritt bei Erwachsenen öfter im ländlichen Raum auf (Hazley et al 2022), die meist eine geringere Bandbreite an Lebensmitteln zur Auswahl haben als in urbanen Gegenden. In ländlichen Regionen hat die Gastronomie stärkeren Regionalbezug; Essen ist stärker traditionell verankert.
In einem systematischen Review über die Verwendung der Food Neophobia Scale – jener Skala, mit der Neophobie üblicherweise gemessen wird (s.u.) - zeigten Rabadán & Bernabéu (2021), dass die meisten Studien in Industrieländern, v. a. in Europa und den USA, durchgeführt wurden. Osteuropa, Afrika und der mittlere Osten sind unterbelichtet. Dabei ist bekannt, dass es geografische Unterschiede hinsichtlich Neophobie bei Erwachsenen gibt: in Neuseeland, China und dem Libanon ist sie vergleichsweise hoch, in Mexiko oder Brasilien hingegen etwas niedriger.
Eine europäische cross-nationale Studie verglich die Neophobie von 9–12-jährigen Kindern aus Italien, Spanien, UK, Schweden und Finnland. Die Ergebnisse zeigten zwar nur kleine, aber dennoch signifikante Unterschiede hinsichtlich Neophobie, wobei finnische Kinder weniger neophob waren als Kinder aus Schweden und UK (Proserpio et al 2020).
WIE kann Neophobie gemessen werden?
Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, um Neophobie zu messen.
Die bekannteste Skala ist die Food Neophobia Scale (FNS), die von Pliner und Hobden (1992) entwickelt wurde. Diese mittlerweile > 30 Jahre alte Skala beinhaltet zehn Aussagen, wovon fünf auf Neophobie und fünf auf ihr Gegenteil, die Neophilie, fokussieren. Zu jeder Aussage wird die Zustimmung anhand einer 7-Punkte-Skala von 1 = strongly disagree bis 7 = strongly agree bewertet. Für die mit * gekennzeichneten Aussagen wird der Skalenwert reversiert. Je höher der berechnete FNS-Score, desto höher die Neophobie.
Food Neophobia Scale (FNS) nach Pliner und Hobden (1992): | |
1. I am constantly sampling new and different foods.* | 6. If I don’t know what is in a food, I won’t try it. |
2. I don’t trust new foods. | 7. I am afraid to eat things I have never had before. |
3. If I don’t know what is in a food, I won’t try it. | 8. I am very particular about the foods I will eat. |
4. I like foods from different countries.* | 9. I will eat almost anything.* |
5. Ethnic food looks too weird to eat. | 10. I like to try new ethnic restaurants.* |
Die FNS wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt bzw. Kulturräume übertragen. Sie wird auch heute verwendet (z. B. Cinar et al 2021, Hazley et al 2022, Hopkins et al 2023, Helland et al 2023), wenngleich manche Begriffe (z. B. ethno food) nicht mehr zeitgemäß sind.
Spannend ist, dass die Einteilung in Neophobie in Studien sehr unterschiedlich erfolgt. Manche Studienautor:innen klassifizieren Neophobie und Neophilie relativ im Vergleich zum Mittelwert oder Median der befragten Personen. Andere verwenden die halbe maximale Punktezahl (35 von 70) als Trennlinie. Wieder andere teilen in Perzentilen, Terzilen, oder
drei gleiche Intervalle ein (Karaağa und Bellikci-Koyu 2023). Dies erklärt auch, warum die Bandbreite der Neophobieangaben so stark variiert.
Eine Abwandlung und Verkürzung der klassischen FNS ist die Child Food Neophobia Scale (Etuk & Forestell 2021, Zou et al 2019), die es je nach untersuchter Altersgruppe mit unterschiedlich vielen Ausprägungen gibt. Zou et al (2019) untersuchten 12-36 Monate alte Kinder mit nachfolgender 6-Item-Skala. Die Zustimmung zu den sechs nachfolgenden Aussagen (von „completely disagree“ bis completely agree“) wird von Eltern angegeben.
1. My child is constantly sampling new and different (variety) foods.* |
2. My child does not trust new foods. |
3. If my child doesn’t know what is in a food, s/he won’t try it. |
4. My child is afraid to eat things s/he has never had before. |
5. My child is very particular about the foods s/he will eat. |
6. My child will eat almost anything.* |
Laureati et al (2015) entwickelten eine italienische kindgerechte Neophobieskala mit 8 Aussagen. Die Zustimmung dazu kann von Kindern selbst anhand einer 5-Punkte-Gesichterskala samt Daumen, die nach unten oder oben zeigen, ausgefüllt werden kann. Die Aussagen der Skala auf Englisch lauten:
1. I eat almost every day new and unusual foods.* |
2. I don’t trust new foods. |
3. If a food is new, I don’t try it. |
4. I like to try weird tastes and foods, which are unusual and coming from different countries.* |
5. When I’m at a friend’s party, I like to try new foods.* |
6. I am afraid to eat food I have never had before. |
7. I am very fussy when it’s a matter of food. |
8. I really eat everything!* |
Für die mit * gekennzeichneten Aussagen wird der Skalenwert reversiert.
Jung ist die Untersuchung von pflanzen- und fleischbezogener Neophobie. Die entsprechenden Skalen, die Plant specific FNS (Cinar et al 2021) und die Meat specific FNS (Cinar et al 2021), sind ebenso Abwandlungen der klassischen FNS.
Weitere Möglichkeiten, Neophobie (ggf. in Kombination mit einer Variante der FNS) zu untersuchen, sind u. a.:
- Child food rejection scale (CFRS) (Hendriks-Hartensved et al 2023).
- Fruit and vegetable neophobia instrument (FVNI) (Hendriks-Hartensved et al 2023)
- Empathy towards animal scale (Cinar et al 2021)
- Openness to experience factor of the HEXACO-60 (Cinar et al 2021)
- Three domains of disgust scale (Cinar et al 2021)
- Childrens eating behaviour questionnaire (CEBQ), von Eltern ausgefüllt (Hazley et al 2022)
- Spence children anxiety scale (Etuk & Forestell 2021)
- Child feeding questionnaires (Etuk & Forestell 2021)
- Food frequency interviews (Etuk & Forestell 2021)
- Comprehensive feeding practice questionnaire CFPQ (Helland et al 2023)
- Food situations questionnaire FSQ (Karaağa und Bellikci-Koyu 2023)
- Zum erweiterten Thema „Picky eating“: qualitative Interviews mit Eltern (Chilman et al 2023, Cuncliffe et al 2021)
Es gibt aber auch eine spezielle Form der Lebensmittel-Neophobie, die sich auf die Herstellungsweise bezieht. Diese Lebensmitteltechnologie-Neophobie (Food Technology Neophobia) wird mittels Food Technology Neophobia Scale quantifiziert (Krings et al 2022, Heidmeier und Teuber 2022). Die Skala enthält 13 Aussagen, zu denen die Zustimmung an einer 7-Punkte-Skala (von 1 = „stimme ich gar nicht“ zu bis 7 = „stimme ich völlig zu“) abgefragt wird.
Gesundheitliche Auswirkungen der Neophobie
Neophobie kann sich auf die Nährstoffversorgung auswirken, besonders von Vitaminen und Mineralstoffen (Bialek-Dratwa et al 2022). Die meisten Studien, die den Zusammenhang zwischen Neophobie und Nährstoffaufnahme untersuchten, zeigten einen signifikanten Unterschied in der Energie-, Makronährstoff- und Mikronährstoffaufnahme abhängig des Neophobie-Grades (Karaağa und Bellikci-Koyu 2023). Neophobie ist mit niedrigerer Proteinaufnahme und höherem Kohlenhydratkonsum assoziiert, die Mineralstoffaufnahme neophober Kinder ist im Grundschulalter geringer. Saipudin et al (2022) fanden bei 4–6-jährigen Kindern, dass normalgewichtige Kinder öfter von Neophobie betroffen sind als über- und untergewichtige Kinder. Proserpio et al (2020) fanden keinen Zusammenhang zwischen Neophobie und BMI bei 9-12-jährigen Kindern.
Theoretisch kann Neophobie den BMI in beide Richtungen beeinflussen: zu geringer Lebensmittel- und damit geringer Energieaufnahme, aber genauso zum ausschließlichen Konsum vertrauter, üppiger, traditioneller „Hausmannskost“. So zeigen die Ergebnisse von Proserpio et al (2018) bei Erwachsenen, dass adipöse Männer stärker neophob als adipöse Frauen waren, beide jedoch neophober als die normalgewichtige Kontrollgruppe waren.
Welche aktuellen Auswirkungen hat Neophobie auf die sensorische Praxis?
Die Anzahl an Konsumenten, die weniger tierische Produkte verzehrt, steigt weltweit an (Pasqualone 2022). Neophobie wirft in diesem Zusammenhang neue Fragen auf: etwa, ob Zielgruppen mit besonderer Ernährungsform besonders stark oder schwach neophob sind, oder wie man Menschen motiviert, neue Lebensmittel ausprobieren.
Pflanzliche Lebensmittel
Pflanzliche Lebensmittel sind im Sinne einer klima- und planetar verträglichen Ernährung im Fokus. Der planetare Teller besteht zu 50 % aus Obst & Gemüse – und Gemüse sind häufig von Neophobie betroffen.
Genauso ist es denkbar, dass Fleischverzicht bei manchen Menschen die logische Folge einer Fleisch-Neophobie darstellt. Umso erstaunlicher ist es, wie wenig dieses Thema in Zusammenhang mit Neophobie bislang wissenschaftlich beleuchtet wurde. In ihrem Review basierend auf 139 Publikationen beschrieben Karaağa und Bellikci-Koyu (2023) nur eine einzige Studie, die den Zusammenhang zwischen Vegetarismus und Neophobie bei weiblichen Jugendlichen (15-19 Jahre) untersuchte.
Dabei waren die Vegetarierinnen stärker neophob als ihre Mitschülerinnen, die nicht vegetarisch aßen. In einer aktuellen australischen Studie (Hopkins et al 2023) beantworteten >600 Personen, der Großteil weiblich, einen online-Fragebogen. Dabei zeigte sich ebenso eine starke Assoziation zwischen Neophobie und vegetarischer bzw. veganer Ernährung.
Vegane Fleischersatzprodukte sind ein großer Markt, sie müssen aber sensorisch überzeugen. Soja- und Erbsenprodukte nehmen dabei einen besonderen Stellenwert ein. In einer Studie wurden 327 Konsument:innen in Deutschland mehr und weniger bekannte Sojaprodukte (Sojasauce, Sojadrink, Miso, Yuba) samt Produktname am Bildschirm gezeigt. Die Personen mussten ihre Vertrautheit mit dem jeweiligen Produkt, ihre eigene Neophobie, den erwarteten Gesundheitsnutzen, die Akzeptanz, Geschmackserwartung und den Willen, es zu kosten, bewerten. Neophobe Teilnehmer:innen reagierten insgesamt schlechter auf Sojaprodukte als neophile Personen, auf bekannte Sojaprodukte jedoch besser als auf unbekannte. Hingegen spielte die Vertrautheit mit dem Produkt bei neophilen Personen keine Rolle (Fenko et al 2015).
Neben der Vertrautheit mit Produkten kann auch das Unwissen, wie man diese zubereitet, eine Konsumbarriere darstellen.
Entomophagie
Der Verzehr von Insekten statt Fleisch bringt geringeren Land-, Wasser- und Energieverbrauch und geringere Treibhausemissionen mit sich. Doch Neophobie und Ekel sind Gründe, sie erst gar nicht zu probieren, vor allem wenn das ganze Insekt sichtbar ist. Neophobe Personen gaben in einer Befragung seltener an, bereits Insekten probiert zu haben als neophile Personen und sind auch künftig weniger dazu bereit (Hopkins et al 2023).
Doch Informationen bezüglich Geschmack, Gesundheit oder Nachhaltigkeit hatten bei dänischen Kindern im Alter von 9-13 Jahren keinen Einfluss auf die Bereitschaft, ein Insekt zu kosten, hingegen war die Neophobie ein starker Prädiktor für die Verkostungsbereitschaft (Erhard et al 2023).
In einer online-Befragung in fünf Ländern – zwei davon mit längerer Insekten-Esskultur (China, Mexiko) und drei, wo der Verzehr von Insekten neu ist (Belgien, Italien, USA) – zeigte sich, dass Personen, die bereits einmal Insekten gegessen haben, eher willens sind, Insekten zu kaufen und zu essen als Personen, die diese Erfahrung nicht gemacht haben (Sogari et al 2023).
Ekel spielt eine große Rolle bei der Ablehnung von Insekten. Der Food Neophobia Score war bei Insektenesser:innen niedriger als bei Nichtesser:innen (Sogari et al, 2023). Männer sind eher bereit, Insekten zu essen als Frauen (Sogari et al 2018; Sogari et al 2023).
In vitro Fleisch („clean meat”)
Während es bei Insekten um eine produktbezogene Neophobie geht, ist die Neophobie für in-vitro- Fleisch eine technologiebezogene. Menschen, die ansonsten Fleisch essen, also keine Scheu vor Fleisch per se haben, haben mitunter eine Scheu vor Fleisch, das auf diese neue Weise hergestellt wird. Weitere psychologische Barrieren können Sicherheitsbedenken, die mangelnde Natürlichkeit oder Ekel sein. Das drückt sich auch in Begriffen aus: Clean meat klingt positiver als Labor- oder in-vitro-Fleisch.
Krings et al (2022) forderten Studieneilnehmer in mehreren Experimenten auf, Speisen, die ihnen auf Bildern gezeigt wurden, zu bewerten. Die Speisen wurden dabei entweder als regular meat, als clean meat oder als plant based meat präsentiert. Vegetarier:innen und Veganer:innen bewerteten Speisen mit pflanzlichem Fleischersatz am besten, sie bevorzugten die Gerichte mit in-vitro-Fleisch aber im Vergleich zu „regulärem“ Fleisch. In-vitro-Fleisch spricht somit auch einen kleinen Teil an Vegetariern und Veganern an, die Fleisch aufgrund von Tierschutz ablehnen.
In einer deutschen Online-Befragung mit 526 Teilnehmer:innen, überwiegend jung und gebildet, zeigte sich, dass diese Zielgruppe durchaus aufgeschlossen für in-vitro-Fleisch ist (Heidmeier und Teuber 2022).
Sensorik als Chance
Sensorische Eigenschaften haben großen Einfluss darauf, ob ein Lebensmittel akzeptiert oder abgelehnt wird. Neue Lebensmittel bringen potenziell auch neue Gerüche, Geschmäcker und Texturen. Texturen sind generell ein wesentlicher Aspekt, wenn es um Ablehnung von Produkten geht. Unangenehmes Mundgefühl ist auch mit einem noch so guten Geschmack nicht kompensierbar. Texturen können Ekelempfindungen auslösen und auf diese Weise bereits vor der Verkostung Ablehnung erzeugen.
Kleinere Kinder bevorzugen häufig einzelne/separat erkennbare Lebensmittel anstelle von Mischungen. Diese Vorliebe ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass Kinder Lebensmittel auf diese Weise kennen lernen und auch die Konsequenz ableiten können, die der Genuss eines Lebensmittels mit sich bringt (Cashdan 1998). Anbieter von Gemeinschaftsverpflegung sollten diesem Aspekt Rechnung tragen.
Die Schule ist ein Ort, an dem kindliche Neophobie überwunden werden kann. Werden 8-9-jährige Kinder in die Rezeptauswahl, den online-Einkauf der Zutaten und den Kochprozess involviert, erhöht dies den Willen, neue Speisen zu probieren und reduziert damit die Neophobie (Maiz et al 2021). Zum selben Ergebnis kamen Allirot et al (2016), wo Kinder von 7-13 Jahren, die sich an der Zubereitung von drei unbekannten Speisen & Getränke (Apfel-rote Bete-Saft, Zucchini-Tortilla-Sandwich, Spinatkekse) beteiligten, im Zuge der Nachmittags-Brotzeit häufiger diese Speisen & Getränke wählten als eine Vergleichsgruppe.